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Der Arbeitsschutz der DDR in der Ära Honecker

In den Jahren 1970 bis 1989 leidet der Arbeitsschutz unter dem wirtschaftlichen Zerfall Teil 3
Der Arbeitsschutz der DDR in der Ära Honecker

Beim Arbeitss­chutz zeigte sich mit der Über­nahme der Macht durch Erich Honeck­er, dass er nur noch einen nach­ge­ord­neten Stel­len­wert in der Poli­tik hat­te. Poten­ziell wäre durch die Beto­nung der Sozialpoli­tik durch Honeck­er eine eher stärkere Beach­tung des Arbeitss­chutzes zu erwarten gewe­sen. Aber in zen­tralen Beschlüssen der Partei wurde er immer weniger konkret the­ma­tisiert und ange­sprochen. Da Beschlüsse der SED aber all­ge­meine Richtschnur für die Aktiv­itäten auf den unter­schiedlich­sten Ebe­nen waren, war dies für die Umset­zung nicht förderlich.
Poli­tis­che Forderun­gen zur Verbesserung des Arbeitss­chutzes nah­men zum Teil groteske Züge an, wie beispiel­sweise die Forderung in der Direk­tive des VIII. Parteitages der SED für den Fün­f­jahre­s­plan 1971 bis 1975, in der es u. a. hieß: „Die Arbeitss­chutz- und Brand­schutzbes­tim­mungen sind kon­se­quent einzuhalten.“1 Die sehr starke Ori­en­tierung auf Woh­nungs­bau, solche sozialpoli­tis­chen Felder wie Löhne, Rente, Urlaub, Bau von Kinderkrip­pen und Kindergärten, ließen den Arbeitss­chutz in den Schw­er­punk­t­be­nen­nun­gen unbeachtet und stell­ten ihn gegenüber anderen Bere­ichen der Sozialpoli­tik in dieser Zeit in den Hintergrund.

Arbeitsschutz im Arbeitsgesetzbuch der DDR

Bere­its 1971 wurde begonnen, im Rah­men der Vor­bere­itung eines neuen Arbeits­ge­set­zbuch­es (AGB) die grundle­gen­den Forderun­gen zum Arbeitss­chutz neu zu fassen. Der Machtwech­sel 1971 sowie der VIII. Parteitag der SED beschle­u­nigten die Arbeit­en. (SAP­MO-BArch, DY 30/J IV 2/2 A/1572, 1972). Eine voraus­ge­gan­gene Diskus­sion um ein selb­st­ständi­ges kom­plex­es Arbeitss­chutzge­setz war 1968 gescheit­ert. Das AGB erschien dann 1977 (GBl. der DDR I 1977, S. 185) und enthielt solche Grund­sätze, wie ins­beson­dere die
  • Pflicht des Betriebes zur Gestal­tung und Erhal­tung sicher­er, erschw­ern­isfreier sowie die Gesund­heit und Leis­tungs­fähigkeit fördern­der Arbeitsbedingungen
  • Berück­sich­ti­gung der Erfordernisse des Arbeitss­chutzes in der gesamten Führungstätigkeit
  • Förderung der aktiv­en Mitwirkung der Beschäftigten bei der Durch­set­zung des Arbeitsschutzes
  • gew­erkschaftlichen Rechte
  • Pflicht zum Erlass erforder­lich­er betrieblich­er Regelungen.
Es wur­den hier­auf auf­bauend ins­beson­dere konkrete Pflicht­en des Betriebes zur Gestal­tung der Arbeitsmit­tel und Arbeitsver­fahren, zur Bere­it­stel­lung von Kör­per­schutzmit­teln, zur arbeitsmedi­zinis­chen Betreu­ung, zum Ein­satz von Sicher­heitsin­spek­toren, zum beson­deren Schutz von Frauen und Jugendlichen fix­iert. Geregelt wur­den die Befug­nisse der Gew­erkschaften und der staatlichen Kon­trol­lor­gane zum Arbeitsschutz.
Damit war eine sehr geschlossene und kom­plexe Regelung von Grund­sätzen des Arbeitss­chutzes erre­icht wor­den (BArch, DQ 3/42, 1976).
Die Pflicht zur Gewährleis­tung des Arbeitss­chutzes wurde in eine Gen­er­alk­lausel nach § 201 des AGB gefasst: „Der Betrieb ist verpflichtet, den Schutz der Gesund­heit und Arbeit­skraft der Werk­täti­gen vor allem durch die Gestal­tung und Erhal­tung sicher­er, erschw­ern­isfreier sowie die Gesund­heit und Leis­tungs­fähigkeit fördern­der Arbeits­be­din­gun­gen zu gewährleisten.“
Die beson­deren Merk­male dieser Gen­er­alk­lausel beste­hen damit in der
  • Ver­ant­wor­tungszuweisung an den Betrieb
  • präven­tiv­en Aus­rich­tung des Arbeitsschutzes
  • Pflicht ständi­ger Erhal­tung des Niveaus des Arbeitss­chutzes (beze­ich­nen­der­weise fehlt hier die Ori­en­tierung auf Weiterentwicklung)
  • Ein­heit von Schutz und Förderung der Gesundheit
Eine beab­sichtigte Gle­ich­set­zung von Pflicht­en des Betriebs ein­er­seits und des Betrieb­sleit­ers im Arbeitss­chutz ander­er­seits wurde abgelehnt (BArch, DQ 3/11, 1973). Die per­sön­liche Ver­ant­wor­tung für die Ver­wirk­lichung des Arbeitss­chutzes sollte dadurch klar­er wer­den, dass stärk­er zwis­chen den Pflicht­en des Betriebes als wirtschaf­tende Ein­heit und Part­ner von Arbeit­srechtsver­hält­nis­sen auf der einen Seite sowie den unmit­tel­bar von Betrieb­sleit­ern und von lei­t­en­den Mitar­beit­ern wahrzunehmenden Pflicht­en auf der anderen Seite unter­schieden wurde (BArch, DQ 3/36, 1973).
Den Gew­erkschaften ging es um ihre kon­se­quente Beteili­gung an der Pla­nung und Umset­zung des Arbeitss­chutzes in den Betrieben. Es kann davon aus­ge­gan­gen wer­den, das die west­deutsche Geset­zge­bung hier­bei Wirkung hat­te. Das in der Bun­desre­pub­lik verbindliche Betrieb­sver­fas­sungs­ge­setz v. 15.1.1972 (BGBl. I S. 13) gewährleis­tete den Ein­fluss des Betrieb­srats durch Aus­bau der Mitbes­tim­mungsrechte sowie eine Ver­mehrung der Initiativ‑, Kon­troll- und Teil­nah­merechte der Gew­erkschaften speziell im Arbeitsschutz.
Hier­hin­ter wollte die DDR nicht zurück­fall­en. Beispiel­sweise wurde in der Diskus­sion zum Arbeits­ge­set­zbuch Kri­tik an der Mitwirkung der Beschäftigten und der Beach­tung von ihren Vorschlä­gen geübt (BArch, DQ 3/12, 1973). Neu aufgenom­men wurde nun das Recht der betrieblichen Gew­erkschaft­sleitun­gen, der ehre­namtlichen Arbeitss­chutzin­spek­toren, der Arbeitss­chutzkom­mis­sio­nen und Arbeitss­chut­zobleute, zu Pro­jek­ten für neue oder zu rekon­stru­ierende Arbeitsstät­ten und Betrieb­san­la­gen die Gewährleis­tung des Gesund­heits- und Arbeitss­chutzes zu fordern.
Noch 1976 inter­ve­nierte der Bun­desvor­stand des FDGB zum vor­liegen­den Entwurf des AGB und ver­langte Änderun­gen, um ins­beson­dere bei Pro­jek­ten und Pla­nung­sprozessen Ein­fluss zu erhal­ten (BArch, DQ 3/41, 1976; BArch, DQ 3/42, 1976). Er fand es nicht angemessen, wenn den Gew­erkschaften nur zuge­bil­ligt wurde – wie im Entwurf des AGB noch enthal­ten –, zu Fra­gen des Arbeitss­chutzes Stel­lung zu nehmen, ohne das hier­aus Kon­se­quen­zen für den Betrieb resul­tierten. Sie woll­ten das Recht, Erläuterun­gen zu ver­lan­gen und Forderun­gen zu erheben. So stand dementsprechend im ver­ab­schiede­ten AGB: „Sie sind berechtigt, zu Pro­jek­ten für neue oder zu rekon­stru­ierende Arbeitsmit­tel und Arbeitsstät­ten Erläuterun­gen zu ver­lan­gen, Stel­lung zu nehmen, die Gewährleis­tung des Gesund­heits- und Arbeitss­chutzes zu fordern und Vorschläge zu sein­er weit­eren Verbesserung zu unterbreiten.“
Das grund­sät­zliche Kon­troll­recht der Gew­erkschaften im Arbeitss­chutz über die Arbeitss­chutzin­spek­tio­nen blieb erhalten.
Kon­tro­verse Diskus­sio­nen gab es ins­beson­dere zwis­chen dem Staatssekre­tari­at für Arbeit und Löhne und dem Min­is­teri­um für Gesund­heitswe­sen (MfG). Es war in den vorgelegten Posi­tio­nen und Entwür­fen des Kapi­tels zum Arbeitss­chutz vom Staatssekre­tari­at für Arbeit und Löhne immer von der Inte­gra­tion des betrieblichen Gesund­heitss­chutzes aus­ge­gan­gen wor­den. Das MfG wollte dage­gen eine rel­a­tive Selb­st­ständigkeit des Gesund­heitss­chutzes (BArch, DQ 3/41, 1976). Bere­its 1964 war ein geson­dertes „Rah­menge­setz für arbeit­shy­gien­is­che Nor­ma­tive“ gefordert wor­den (SAP­MO-BArch, DY 34/8531, 1964). Die Einord­nung des betrieblichen Gesund­heitss­chutzes vom Grund­satz her blieb aber dann doch nach lan­gen Ver­hand­lun­gen durch das Gesund­heitsmin­is­teri­um akzep­tiert. Trotz­dem gab es im Detail immer wieder zum Teil sich wider­sprechende Ein­sprüche, wenn es um die Aus­gestal­tung ging und hier­bei die Zuständigkeit des Gesund­heitswe­sens ange­sprochen oder betrof­fen war.
Von strate­gis­ch­er Bedeu­tung für das neue AGB waren die
  • Einord­nung des Arbeitss­chutzes in die betriebliche Organ­i­sa­tion und Führung
  • beschworene „Ein­heit von Erziehung und Bil­dung“ der Beschäftigten in Verbindung mit betrieblichen Schu­lun­gen und Unter­weisun­gen im Arbeitss­chutz sowie um die
  • Ori­en­tierung auf betriebliche Regelun­gen im Arbeitss­chutz, die das Recht konkretisieren
Mit der Recht­spflicht in Abs. 2 § 201 des AGB „Der Betrieb­sleit­er und die lei­t­en­den Mitar­beit­er sind verpflichtet, die Erfordernisse des Gesund­heits- und Arbeitss­chutzes sowie Brand­schutzes als Bestandteil der Leitung und Pla­nung des Repro­duk­tion­sprozess­es zu ver­wirk­lichen“ wurde eine verbindliche Ori­en­tierung auf Einord­nung des Arbeitss­chutzes in betriebliche Struk­turen und Prozesse gegeben. Dies war in dieser Zeit eine neue Qual­ität der Durch­set­zung des Arbeitsschutzes.
Eine neue Art rechtlich­er Forderun­gen an die Betriebe zum Arbeitss­chutz ent­stand durch das AGB von 1977, indem die Unternehmen verpflichtet wur­den, das staatliche Recht in Eigen­ver­ant­wor­tung auszugestal­ten (BArch, DQ 3/42, 1976). So wurde als grundle­gende Lin­ie ver­fol­gt, in den Vorschriften Schutzziele zu ver­ankern und in betrieblich­er Zuständigkeit eigene Stan­dards (betriebliche Regelun­gen) zu setzen.
Das 10. Kapi­tel Gesund­heits- und Arbeitss­chutz des AGB wurde durch die Arbeitss­chutzverord­nung – ASVO – v. 1.12.1977 (GBl. der DDR I 1978, S. 405) sowie durch die Verord­nung über das Betrieb­s­ge­sund­heitswe­sen und die Arbeit­shy­gien­ein­spek­tion v. 11.1.1978 (GBl. der DDR I 1978, S. 61) – also zwei­gleisig – weit­er ausgestaltet.

Neuordnung der Arbeitsschutzvorschriften über Standards

1964 set­zte eine Ori­en­tierung auf Stan­dar­d­isierung (Nor­mung) von Arbeitss­chutz­forderun­gen ein. Der Wis­senschaftler Her­mann Tet­zn­er betonte bere­its zu dieser Zeit, dass die Stan­dards gewohntes Handw­erkzeug des Inge­nieurs seien, aber eine Arbeitss­chutzanord­nung als all­ge­meine Vorschrift eher nicht. Es ent­standen erste Konzepte der Über­führung von Arbeitss­chutzanord­nun­gen in Stan­dards. Die Über­legun­gen sahen zunächst vor, tech­nis­che Einzel­heit­en zur Konkretisierung der Arbeitss­chutzanord­nun­gen in über­be­trieblichen Stan­dards festzule­gen. Diesen Ansatz enthielt ein Entwurf zur Neu­fas­sung der Arbeitss­chutzverord­nung aus dem Jahre 1967 (SAP­MO-BArch, DY 34/8530, 1967), der aber nicht umge­set­zt wurde. Konkret wur­den diese Ansätze dann in den 1970er und 1980er Jahren aufge­grif­f­en, in denen es eine bre­it­ere Stan­dar­d­isierungswelle zum Arbeitss­chutz gab.
Neben solchen fach­lichen Grün­den ging es in der Ära Honeck­er nun aber eher um poli­tisch-wirtschaftliche Erwä­gun­gen. Die in den Arbeitss­chutzregelun­gen enthal­te­nen tech­nis­chen Vorschriften für Arbeitsmit­tel führten wieder­holt zu Prob­le­men beim Import von Maschi­nen und Geräten aus der Sow­je­tu­nion. Ins­beson­dere importierte Hebezeuge, Bau­maschi­nen, Werkzeug­maschi­nen oder elek­trotech­nis­che Güter aus der UdSSR mussten nachgerüstet wer­den. Durch Maschi­nen­im­porte aus dem sozial­is­tis­chen Aus­land gin­gen jährlich Mil­lio­nen ver­loren, weil die Maschi­nen auf DDR-Niveau umgerüstet wer­den mussten. Die Forderun­gen in Arbeitss­chutzanord­nun­gen waren in einem lan­gen Prozess immer wieder fort­geschrieben und dem Stand der Tech­nik angepasst wor­den. Die Anord­nun­gen hat­ten ihre Wurzeln in den Unfal­lver­hü­tungsvorschriften der Beruf­sgenossen­schaften aus der Zeit vor 1945 und gal­ten allg. als hoher Stan­dard des Arbeitss­chutzes. Punk­tuelle Erken­nt­nisse wur­den nun zu ein­er Kam­pagne genutzt, Forderun­gen des Arbeitss­chutzes als „nicht notwendig“ zu erk­lären (BArch, DC 20/I/4 2656).
Diese poli­tis­che Entwick­lung wurde bere­its 1961 durch die Staatliche Plankom­mis­sion (SPK) angestoßen (SAP­MO-BArch, DY 30/IV 2/2029, 1961). Die SPK proklamierte u. a.: „Ein wesentlich­es Hin­der­nis für die Sicherung der Wirtschaft der DDR gegen willkür­liche Maß­nah­men mil­i­taris­tis­ch­er Kreise West­deutsch­lands beste­ht darin, dass Import­forderun­gen in der Regel nach Nor­men spez­i­fiziert wer­den, die nur für Bezüge aus West­deutsch­land anwend­bar sind. […] Das Amt für Stan­dar­d­isierung wird beauf­tragt, [alles zu tun], um zu ein­er noch engeren Zusam­me­nar­beit mit dem Komi­tee für Stan­dards, [Maße] und Mess­geräte beim Min­is­ter­rat zu kom­men, damit neu zu entwick­el­nde TGL und GOST-Stan­dards [in Übere­in­stim­mung] gebracht wer­den.“ Solche Fra­gen wur­den sog­ar ide­ol­o­gisiert: „Die ungenü­gende Nutzung der Möglichkeit­en zur Anwen­dung von tech­nis­chen Bes­tim­mungen und Gütevorschriften der UdSSR ist aber auch Aus­druck von Män­geln der poli­tisch-ide­ol­o­gis­chen Erziehungsar­beit in den für die Importvor­bere­itung ver­ant­wortlichen Orga­nen.“ (BArch, DC 20/I/4 – 2656, 1972).
Für die DDR war erk­lärtes Ziel, die Stan­dards zwis­chen der UdSSR und der DDR generell zu vere­in­heitlichen (BArch, DC 20/I/4 – 2656, 1972). Für den Arbeitss­chutz war speziell fest­gelegt wor­den, die in Arbeitss­chutzanord­nun­gen enthal­te­nen Fes­tle­gun­gen schrit­tweise in Stan­dards zu über­führen (SAP­MO-BArch, DY 34/ 25255, 1972). So mussten alle das grund­sät­zliche Recht des Arbeitss­chutzes spez­i­fizierende Forderun­gen fak­tisch mit der UdSSR vere­in­heitlicht werden.
Geschaf­fen wurde ein Klas­si­fizierungssys­tem für die Arbeitss­chutz­s­tan­dards. Hier­mit ver­bun­den war eine bessere Über­schaubarkeit der spez­i­fis­chen Arbeitss­chutzregelun­gen. Ein Konzept zur Klas­si­fizierung wurde selb­st­ständig in der DDR entwick­elt. Umge­set­zt wurde aber ein Klas­si­fizierungssys­tem nach dem Mod­ell der Sow­je­tu­nion. Ver­ant­wortlich waren für grundle­gende Stan­dards zum Arbeitss­chutz das Staatssekre­tari­at für Arbeit und Löhne, für fach­spez­i­fis­che und branchen­be­zo­gene Stan­dards die in der DDR beste­hen­den ver­schiede­nen Indus­triem­i­nis­te­rien (z. B. das Min­is­teri­um für Erzberg­bau, Met­al­lurgie und Kali, das Min­is­teri­um für Kohle und Energie usw.). Diese Ver­ant­wor­tung bestand bere­its bei den branchen­be­zo­ge­nen Arbeitss­chutzanord­nun­gen, die ursprünglich auf der Branchen­spez­i­fik der Beruf­sgenossen­schaften beruhten.
Bis 1988 war ca. ein Vier­tel der über 200 Arbeitss­chutzanord­nun­gen durch Stan­dards abgelöst wor­den. Der Prozess der Ausar­beitung von Stan­dards gestal­tete sich als außeror­dentlich zäh durch kom­plizierte und bürokratis­che Abstim­mungen mit der Sow­je­tu­nion bilat­er­al und im COMECON mul­ti­lat­er­al. Hier­bei blieben viele gute Ansätze auf der Strecke. In zum Teil zähen Ver­hand­lun­gen zwis­chen dem Staatssekre­tari­at für Arbeit und Löhne und GOSSTANDARD, als dem zuständi­gen zen­tralen sow­jetis­chen Stan­dar­d­isierung­sor­gan für grundle­gende Stan­dards, zeigten sich von sow­jetis­ch­er Seite oft­mals kein­er­lei Kom­pro­misse an ihren Regeln. In den Ver­hand­lun­gen kam es dazu, dass die sow­jetis­che Seite nicht Entwürfe zur Ver­hand­lung stellte, son­dern bere­its zuvor bestätigte GOST als Nor­men der UdSSR. Es gab Fälle, in denen die sow­jetis­che Ver­hand­lungs­del­e­ga­tion sich auf kein­er­lei Sachar­gu­mente ein­ließ, son­dern stur auf ihre Posi­tio­nen zurück­zog. So kamen statt Sachar­gu­mente sog­ar Siegermen­tal­itäten nach dem 2. Weltkrieg von sow­jetis­ch­er Seite offen zur Sprache. Es ent­standen in ein­er Rei­he von Stan­dards eher bürokratis­che Floskeln, weniger sach­lich-fach­lich vere­in­heitlichte Stan­dards. Die Sow­je­tu­nion hat­te nur das Anliegen, ihre Bes­tim­mungen durchzubrin­gen. Dem Ker­nan­liegen vere­in­heitlichter Forderun­gen wurde nur bed­ingt entsprochen.
Die Arbeitsmedi­zin war in dieses Sys­tem der Arbeitss­chutz­s­tan­dards nicht inte­gri­ert. Das MfG behar­rte auf einem eigen­ständi­gen Sys­tem arbeit­shy­gien­is­ch­er Stan­dards. Nach­dem bere­its in den 1950er Jahren erste arbeit­shy­gien­is­che Nor­ma­tive ent­standen waren, wur­den nor­ma­tive Vor­gaben für physikalis­che Fak­toren und Gefahrstoffe etwa ab 1966 in staatliche Stan­dards über­führt. In Ver­ant­wor­tung des Gesund­heitswe­sens wur­den dann seit Mitte der 1970er Jahre in rund 130 Stan­dards arbeit­shy­gien­is­che Gren­zw­erte und Nor­men mit den dazuge­höri­gen Nach­weis- und Bew­er­tungsver­fahren fest­gelegt. Der Ansatz, auf Selb­st­ständigkeit zu behar­ren, wie er sich bere­its bei der Vor­bere­itung zum Arbeits­ge­set­zbuch gezeigt hat­te sowie auch bei speziellen Verord­nun­gen neben der Arbeitss­chutzverord­nung prak­tiziert wurde, ist vom Min­is­teri­um für Gesund­heitswe­sen auch in der Stan­dar­d­isierung kon­se­quent ver­fol­gt worden.
In den Stan­dards der Arbeit­shy­giene gab es dur­chaus auch Fes­tle­gun­gen zur Gestal­tung der Arbeits­be­din­gun­gen. So waren beispiel­sweise ergonomis­che Anforderun­gen an Steh- und Sitzarbeit­splätzen im Klas­si­fizierungssys­tem der Arbeit­shy­giene; Anforderun­gen generell zu Arbeitsstät­ten ein­schl. Arbeit­splätzen waren aber im Klas­si­fizierungssys­tem des Arbeitss­chutzes geregelt. So gab es let­ztlich zwei Stan­dar­d­isierungssys­teme mit jew­eils eige­nen Ordnungssystemen.
Einen Überblick über das ent­standene Vorschriften­sys­tem im Arbeitss­chutz gibt Abbil­dung 4.

Die Entwicklung des Einsatzes von Sicherheitsinspektoren

Das AGB von 1977 und die zuge­hörige ASVO von 1977 enthiel­ten die grundle­gen­den Forderun­gen zum Ein­satz und zur Tätigkeit der Sicher­heitsin­spek­toren. Eine Spez­i­fizierung und weit­ere Aus­gestal­tung enthielt eine 2. Durch­führungs­bes­tim­mung (DB) zur ASVO v. 6.9.1978 (GBl. der DDR I 1978 S. 373). Die Konkretisierung bezog sich auf den Ein­satz dieser Fach­ex­perten: Es waren in allen Betrieben, in den zen­tralen Staat­sor­ga­nen, bei den örtlichen Räten, in den wirtschaft­slei­t­en­den und ihnen gle­ichgestell­ten Orga­nen und auch in den Pro­duk­tion­sgenossen­schaften Sicher­heitsin­spek­toren einzuset­zen. Vor­gaben zu Ein­satzzeit­en gab es zu kein­er Zeit. Die direk­te Anleitung und zen­trale Ein­flussnahme über­ge­ord­neter Organe war durch die Hier­ar­chie organ­isiert, der Zen­tral­is­mus gesichert. Anson­sten wur­den in der Durch­führungs­bes­tim­mung die bis zu dieser Zeit ent­stande­nen Anforderun­gen in unter­schiedlichen Doku­menten zusam­menge­führt und blieben inhaltlich erhalten.
Die inhaltliche Grun­dauf­gabe war, dass der Sicher­heitsin­spek­tor „als Beauf­tragter des Betrieb­sleit­ers diesen bei der Wahrnehmung sein­er Ver­ant­wor­tung zur Durch­set­zung der in Rechtsvorschriften und betrieblichen Regelun­gen getrof­fe­nen Fes­tle­gun­gen zum Gesund­heits- und Arbeitss­chutz umfassend zu berat­en, sachkundig zu unter­stützen und die lei­t­en­den Mitar­beit­er auf diesem Gebi­et anzuleit­en und zu kon­trol­lieren.“ Die Bun­desre­pub­lik hat­te nach zähem Rin­gen das Arbeitssicher­heits­ge­setz (ASiG) zu dieser Zeit beschlossen, das den Ein­satz von Sicher­heits­fachkräften fes­tlegte, wenn auch längst nicht in allen Betrieben, son­dern in bes­timmten Gren­zen (präzisiert durch Unfal­lver­hü­tungsvorschriften der Beruf­sgenossen­schaften). Bere­its seit 1950 gab es in der DDR Sicher­heitsin­spek­toren. Nun­mehr lehnt sich die 2. DB zur ASVO in ein­er Rei­he von For­mulierun­gen ins­beson­dere zu den Auf­gaben und die geforderte Qual­i­fika­tion dieser Experten offen­sichtlich an die west­deutsche Geset­zge­bung an, ging aber auch eigene Wege.
Jet­zt wurde es in der DDR möglich, dass unter bes­timmten Voraus­set­zun­gen anstelle ein­er abgeschlosse­nen Hoch- und Fach­schu­laus­bil­dung „entsprechend der betrieblichen Bedin­gun­gen“ eine Meis­terqual­i­fika­tion und in Betrieben mit ger­ingfügi­gen Gesund­heits­ge­fährdun­gen eine Fachar­beit­erqual­i­fika­tion als aus­re­ichend anerkan­nt wurde. Dies war bis dahin nicht möglich. Die grundle­gende Forderung nach Hoch- und Fach­schu­la­b­schluss hat­te sich als nicht prak­tik­a­bel erwiesen.
Deut­lich wurde die Kon­troll­funk­tion eines Sicher­heitsin­spek­tors betont, und zwar nicht all­ge­mein bezo­gen auf die Arbeits­be­din­gun­gen, son­dern speziell auch als Kon­trolle der lei­t­en­den Mitar­beit­er und der Wahrnehmung von deren Verantwortung.

Zum Ausbau des Betriebsgesundheitswesens

Ein zen­traler gemein­samer Beschluss des Polit­büros des ZK der SED, des Min­is­ter­rates der DDR und des Bun­desvor­standes des FDGB „Verbesserung der medi­zinis­chen Betreu­ung der Bevölkerung“ vom 25.9.1973 wird als her­aus­ra­gen­des Geset­zeswerk der 1970er Jahre gew­ertet. „Nie wieder wird in den nach­fol­gen­den Jahren ein der­art umfassendes gesund­heit­spoli­tis­ches Pro­gramm vorgelegt.“ Dieser Beschluss kam offen­sichtlich auch unter dem Ein­druck der zu dieser Zeit wieder angestiege­nen Repub­lik­flucht und der wach­senden Unzufrieden­heit der Bevölkerung mit der medi­zinis­chen Ver­sorgung zus­tande. Das Grun­dan­liegen war nicht das Betrieb­s­ge­sund­heitswe­sen. Der betriebliche Gesund­heitss­chutz wurde aber hier ein­ge­ord­net in die Gesund­heit­spoli­tik für eine stärkere hausärztliche Ver­sorgung. Es heißt im Beschluss: „Der Gesund­heitss­chutz der Werk­täti­gen in den Betrieben ist durch den qual­i­ta­tiv­en Aus­bau des Betrieb­s­ge­sund­heitswe­sens zu erweit­ern, um ins­beson­dere für Pro­duk­tion­sar­beit­er eine umfassende ärztliche Betreu­ung zu gewährleis­ten.“ Gemeint ist damit eine stärkere Gewich­tung der Tätigkeit der Betrieb­särzte für die all­ge­meine ärztliche Betreu­ung der Beschäftigten. In der DDR der 1970er/1980er Jahre ging man mit kleineren Ver­let­zun­gen, Infek­tio­nen oder chro­nis­chen Erkrankun­gen nicht zum Hausarzt, son­dern in die Polik­linik des Betriebes, wenn sie vorhan­den war.
Seit Mitte der 1970er Jahre wur­den etwa zwei Drit­tel aller Beschäftigten von betrieblichen Gesund­heit­sein­rich­tun­gen (Betrieb­spo­lik­liniken, ‑ambu­la­to­rien, Arzt- bzw. Schwest­ern­stellen) unmit­tel­bar betreut. Für kleine Betriebe über­nah­men ambu­lante Ein­rich­tun­gen des ter­ri­to­ri­alen Gesund­heitswe­sens die betrieb­särztlichen Auf­gaben. Rech­net man diese hinzu, so erre­ichte der betrieblich lokalisierte Gesund­heits­di­enst etwa 75 Prozent der Beschäftigten. Umgekehrt baut­en Groß­be­triebe die Kapaz­ität ihrer Gesund­heit­sein­rich­tun­gen häu­fig so weit aus, dass sie neben den Betrieb­sange­höri­gen und ihren Fam­i­lien­mit­gliedern auch Teile der Wohn­bevölkerung mit­be­treuen kon­nten, ja mussten. Als zen­trale Orte der Ver­mit­tlung von Gesund­heit­sleis­tun­gen gewan­nen die Betriebe somit zusät­zliche Bedeu­tung für die Lebenslage großer Teile der Bevölkerung.
1978 wur­den Auf­gaben­stel­lung und Arbeitsweise der Betrieb­särzte rechtlich weit­er­en­twick­elt. Erlassen wur­den die Verord­nung über das Betrieb­s­ge­sund­heitswe­sen und die Arbeit­shy­gien­ein­spek­tion sowie die Erste DB hierzu. Diese Verord­nung stand neben der Arbeitsschutzverordnung.
Es wur­den fünf Kern­punk­te betrieb­särztlich­er Tätigkeit festgeschrieben:
  • Medi­zinis­che Betreu­ung, zu der neben der Ersten Hil­fe ins­beson­dere auch all­ge­meine Sprech­stun­den­tätigkeit der Ärzte gehörte
  • Arbeitsmedi­zinis­che Betreu­ung mit den Schw­er­punk­ten der erforder­lichen Tauglichkeits- und Überwachung­sun­ter­suchun­gen, der Ein­schätzung des Gesund­heit­szu­s­tandes der Beschäftigten, aber auch die Unter­stützung der Berufs­ber­atung Jugendlich­er, die Überwachung des Ein­satzes von Beschäftigten im Rah­men der Reha­bil­i­ta­tion und von Schonar­beit, die Unter­stützung des Betrieb­sleit­ers bei der Auswer­tung und Senkung des Kranken­standes, die Mitwirkung bei der Ver­gabe von Kuren; der Betrieb­sarzt wirk­te mit der Betrieb­sre­ha­bil­i­ta­tion­skom­mis­sion zusammen
  • Arbeit­shy­gien­is­che Beratung, hier ins­beson­dere die Mitwirkung bei der arbeit­shy­gien­is­chen Analyse der Arbeit­splätze, die Kon­trolle der hygien­is­chen und phys­i­ol­o­gis­chen Gestal­tung von Arbeitsmit­teln, Arbeitsver­fahren und Arbeitsstät­ten, die Kon­trolle der Durch­set­zung der Rechtsvorschriften für den speziellen Schutz bes­timmter Grup­pen von Beschäftigten, wie Jugendliche, Frauen usw.
  • Kon­trolle hygien­is­ch­er Nor­men, wie Ein­hal­tung der Hygien­ebes­tim­mungen im Betrieb ins­beson­dere in gesund­heit­stech­nis­chen und san­itären Anla­gen, Ein­rich­tun­gen der Gemein­schaftsverpfle­gung, Kon­trolle der Speisen­ver­sorgung in allen Schicht­en, Vor­bere­itung und Durch­führung von Schutzimpfungen
  • Gesund­heit­serziehung der Beschäftigten ein­schl. Beratung des Betrieb­sleit­ers hierzu.
Charak­ter­is­tisch war die Ein­heit von betrieb­särztlich­er Beratung im Sinne der Präven­tion mit kura­tiv­er Behand­lung und Nach­sorge. Und der Betrieb­sarzt hat­te auch Ein­stel­lung­sun­ter­suchun­gen durchzuführen. Neben der Unter­stützung der Betrieb­sleit­er waren ins­beson­dere – im Unter­schied zur Prax­is in der Bun­desre­pub­lik – auch staatliche Überwachungsauf­gaben wahrzunehmen.
Der Betrieb­sarzt wurde unmit­tel­bar durch die staatlichen Inspek­tion­sor­gane im Gesund­heitswe­sen für betriebliche Kon­trol­lauf­gaben mit entsprechend erforder­lich­er Bericht­ser­stel­lung einge­set­zt. Dies störte ein notwendi­ges Ver­trauensver­hält­nis zwis­chen Betrieb und Betriebsarzt.
Es gab dur­chaus zen­tral vorgegebene Arbeitss­chw­er­punk­te, die eine dif­feren­zierte betriebliche Arbeitsweise der Betrieb­särzte erschw­eren kon­nten. Die umfan­gre­ichen Tauglichkeits- und Überwachung­sun­ter­suchun­gen ban­den einen sehr hohen Teil der betrieb­särztlichen Betreu­ungska­paz­ität, was insoweit auch der primären Präven­tion ver­loren ging.
Arbeitsmedi­zinis­che Tauglichkeits- und Überwachung­sun­ter­suchun­gen stell­ten das Kern­stück der arbeitsmedi­zinis­chen Vor­sorge im sozial­is­tis­chen Betrieb dar, wie es der stel­lvertre­tende Direk­tor des Zen­tralin­sti­tuts für Arbeitsmedi­zin 1976 aus­drück­te. Ein wichtiges Ergeb­nis der arbeitsmedi­zinis­chen Unter­suchung bestand in der Beurteilung dessen, ob der Beschäftigte für die von ihm aus­geübte oder kün­ftig auszuübende Tätigkeit tauglich war oder nicht.
Zahlre­iche Beschäftigte waren inner­halb eines Jahres mehrmals und oft noch durch ver­schiedene Ärzte unter­sucht wor­den. Darüber hin­aus wiederum erschien ein­mal jährlich eine Vielzahl ander­er Beschäftigter zur Unter­suchung, ohne dass für diese kurzen zeitlichen Abstände aus­re­ichende Gründe seit­ens ihrer Arbeits­be­las­tun­gen vor­la­gen. Die Belas­tungs- und Anforderungssi­t­u­a­tion jedes Arbeit­splatzes ist in einem speziellen Doku­men­ta­tions­be­leg „Arbeit­shy­gien­is­che Arbeit­splatzcharak­ter­is­tik“ erfasst worden.
Diese ein­heitliche Doku­men­ta­tion wurde zen­tral nach unter­schiedlichen Struk­turmerk­malen epi­demi­ol­o­gisch aufgear­beit­et und diente so der generellen Aufk­lärung von Zusam­men­hän­gen zwis­chen Arbeit und Erkrankung, der Verbesserung der Abschätzung von Gesund­heit­srisiken, der dif­feren­zierten Beurteilung der Tauglichkeit, auch der Ableitung von Pri­or­itäten für die Gestal­tung der Arbeits­be­din­gun­gen. Hans-Gün­ter Häublein hat­te die Nutzung solch­er Analy­sen für „Pro­fes­siogramme“ entwick­elt. Pro­fes­siogramme stell­ten Gefährdungs- und Belas­tungssi­t­u­a­tio­nen für Berufe und Tätigkeit­en zusam­men und dien­ten als wesentlich­es Hil­f­s­mit­tel für die gesund­heitliche Betreu­ung der Beschäftigten.
Daneben gab es die „Arbeit­shy­gien­is­che Kom­plex­analyse“ zur Analyse und Beurteilung der Arbeit­splätze. Sie hat­te ein abgestuftes Sys­tem „von grob nach fein“. Auf ori­en­tierende Analy­sen auf­set­zend wur­den bei Bedarf messtech­nisch aufwendi­gere spezielle Analy­sen mit Unter­stützung von geson­dertem Fach­per­son­al gefordert. Ergeb­nisse der Arbeit­shy­gien­is­chen Kom­plex­analyse mussten von den Betrieben an die Arbeit­shy­gien­ein­spek­tion (AHI) gemeldet wer­den. Es bestand insofern seit 1982 zugle­ich eine offizielle staatliche Berichter­stat­tung, die Betriebe verpflichtete, ihre Dat­en weit­erzugeben. Dieser „Arbeit­shy­gien­is­che Bericht“ kon­nte sowohl als betrieblich­es Instru­ment zur Set­zung von Schw­er­punk­ten genutzt wer­den, schuf aber zugle­ich durch regionale sowie zen­trale sta­tis­tis­che Auf­bere­itung eine Gesamtüber­sicht für die Bezirke und die DDR (vgl. Abb. 6). Nicht erfasst wur­den psy­chis­che Belas­tun­gen, weil dies poli­tisch nicht gewollt war. Angaben hierzu sind in den Über­sicht­en nicht enthalten.
Die beson­dere Bedeu­tung liegt in der Verknüp­fung von Befund­doku­men­ta­tio­nen ein­er­seits und der vorauss­chauen­den Belas­tungser­mit­tlung an den Arbeit­splätzen ander­seits. 1989 waren für ca. 88 Prozent aller Beruf­stäti­gen die arbeit­shy­gien­is­chen Bedin­gun­gen doku­men­tiert und so ein­er epi­demi­ol­o­gis­chen Auswer­tung zugänglich. Solche Arbeit­splatzcharak­ter­is­tiken soll­ten den Betrieben helfen, „die arbeit­shy­gien­is­che Sit­u­a­tion einzuschätzen und zu bew­erten.“ Notwendig war eine enge Zusam­me­nar­beit zwis­chen den Betrieb­särzten mit den AHI, wenn sie diese Auf­gabe erfüllen woll­ten, weil nur diese über Spezial­is­ten (z. B. Chemik­er oder Akustik­er) und Spezial­geräte ver­fügten, um gemein­sam mit betrieblichen Abteilun­gen die notwendi­gen Arbeit­splatz­analy­sen durchzuführen.
Es war betrieb­särztliche Auf­gabe, an der ärztlichen Ver­sorgung Arbeit­sun­fähiger mitzuwirken. So sollte auf die Senkung des Kranken­standes Ein­fluss genom­men wer­den. Anleitun­gen hier­für enthiel­ten die method­is­chen Hin­weise für die Auswer­tung des Kranken­standes von 1974 und 1979. Die Ein­heit kura­tiv­er und arbeit­shy­gien­isch-arbeitsmedi­zinis­ch­er Auf­gaben­stel­lun­gen wurde vielfach als bewährt beurteilt. Beson­dere „Für­sorge“ wurde den wegen Krankheit arbeits­be­fre­it­en Beschäftigten in der DDR zuteil. Dem Kranken­stand musste nach Unter­suchun­gen ein­er Dis­ser­ta­tion von Zim­mer­mann aus dem Jahre 2000 nach sozial­is­tis­ch­er Ansicht als gesamt­ge­sellschaftlich­es Phänomen „mas­siv“ zu Leibe gerückt wer­den. Dazu diente ein Son­der­rap­port­sys­tem von den Betrieben zu den staatlichen Stellen des Gesund­heitswe­sens. Auf der Grund­lage geziel­ter Infor­ma­tio­nen mussten die im Bericht­szeitraum aufge­trete­nen Arbeit­saus­fal­lzeit­en infolge Krankheit von Betrieb­sange­höri­gen sowie bes­timmte Auf­fäl­ligkeit­en im Kranken­stands­geschehen analysiert und entsprechende Maß­nah­men fest­gelegt wer­den. Über­stieg die Zahl der kranken Beschäftigten eine „Reizschwelle“, formierte sich im MfG „unter dem Aspekt der Senkung des Kranken­standes“ eine „Inspek­tion­s­gruppe“ aus bewährten „medi­zinis­chen Kadern“, die kranke Arbeit­er aufzus­püren und durch Gesund­schreiben ganz schnell zu kuri­eren hat­ten, wie Zim­mer­mann in seinen Unter­suchun­gen feststellt.
Die betrieb­särztliche Betreu­ung entwick­elte sich ins­beson­dere seit 1978 stark zu ein­er koop­er­a­tiv­en Betreu­ung. Ver­schiedene ärztliche Fachrich­tun­gen wirk­ten zusam­men. Oblig­a­torische Leis­tungs­bere­iche waren bei den Betrieb­spo­lik­liniken Abteilun­gen für Allgemeinmedizin/Innere Medi­zin, arbeitsmedi­zinis­che Leis­tungs- und Funk­tions­di­ag­nos­tik, Arbeitshygiene/Arbeitsphysiologie/Arbeitspsychologie, Unfallchirurgie, Labor- und Rönt­gen­di­ag­nos­tik, Physiotherapie/Arbeitstherapie sowie all­ge­meine Stom­a­tolo­gie. Als Betrieb­särzte waren Fachärzte für All­ge­mein­medi­zin, Internisten, Der­ma­tolo­gen, Orthopä­den, Augenärzte, Gynäkolo­gen, Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und Fachärzte für Arbeit­shy­giene tätig. Also gab es beispiel­sweise Augenärzte als Betrieb­särzte, obwohl sie for­mal diese Qual­i­fika­tion im Sinne eines Betrieb­sarztes nicht hatten.
Zu ein­er wesentlichen Säule des BGW entwick­el­ten sich ver­stärkt wirtschaft­szweigspez­i­fis­che Arbeit­shy­gien­is­che Zen­tren (AHZ) und Beratungsstellen (AHB). Diese Form geht zurück bis in die 1950er Jahre. 1967 waren dann in allen Bezirken der DDR auf Ini­tia­tive von Hans-Gün­ter Häublein arbeit­shy­gien­is­che Beratungsstellen des Bauwe­sens gegrün­det wor­den. Diese Entwick­lung wurde als Erfolg ver­sprechend für die pro­fes­sionelle Beratung von Unternehmen bew­ertet. 1980 erg­ing eine geson­derte Vorschrift, näm­lich die Dritte Durch­führungs­bes­tim­mung zur Verord­nung über das Betrieb­s­ge­sund­heitswe­sen und die Arbeit­shy­gien­ein­spek­tion – Arbeit­shy­gien­is­che Zen­tren und Arbeit­shy­gien­is­che Beratungsstellen. Danach pro­fil­ierten sich in vie­len Branchen solche Zen­tren bzw. Beratungsstellen.
Koop­er­a­tive Arbeitsweise der Ärzte ent­stand zunehmend mit Inge­nieuren, die direkt in Ein­rich­tun­gen des BGW angestellt wur­den. Es war erk­lärtes Ziel, mit diesem tech­nisch qual­i­fizierten Per­son­al inter­diszi­plinär auf die Gestal­tung der Arbeits­be­din­gun­gen direkt Ein­fluss zu nehmen. Es kamen Arbeit­shy­gien­ein­ge­nieure zum Ein­satz. Ger­ade die arbeit­shy­gien­is­che Begutach­tung von Pro­jek­ten wirk­te sich offen­bar präven­tiv auf die Gestal­tung der Arbeits­be­din­gun­gen aus. Die Ver­net­zung von Ärzten und Tech­nikern förderte die Inte­gra­tion der arbeitsmedi­zinis­chen Kom­pe­ten­zen in eine zunehmend inter­diszi­plinär aus­gerichtete Umset­zung des Arbeitsschutzes.
Die Aus­bil­dung von Inge­nieuren für Arbeit­shy­giene begann 1974 an der Inge­nieurschule für Phar­mazie, Abteilung Hygiene/Arbeitshygiene in Leipzig. Diese Aus­bil­dung wurde als post­grad­uales Studi­um durchge­führt. Der Inge­nieur für Arbeit­shy­giene sollte als Part­ner und unter Führung des Facharztes für Arbeit­shy­giene wirk­sam wer­den. Sein Auf­gabenge­bi­et war die Umset­zung arbeit­shy­gien­is­ch­er Erken­nt­nisse in die Prax­is. 1981 war ein post­grad­uales Studi­um zum „Fach­wis­senschaftler Medizin/Fachrichtung Arbeit­shy­giene“ für natur­wis­senschaftliche und tech­nis­che Hochschu­la­b­sol­ven­ten sowie Diplompsy­cholo­gen im Gesund­heitswe­sen einge­führt wor­den, um eine inter­diszi­plinäre Koop­er­a­tion und anerkan­nte Gle­ich­w­er­tigkeit der Fachkom­pe­tenz der ver­schiede­nen im medi­zinis­chen, tech­nis­chen und sozialen Gesund­heitss­chutz täti­gen Akademik­er zu sichern.
Eine beson­dere Stärke des BGW war die Möglichkeit, Defizite in der Gewährleis­tung der Arbeitssicher­heit durch tech­nis­che Maß­nah­men der Gestal­tung von Arbeitsmit­teln, Arbeitsstät­ten und Arbeitsver­fahren im gewis­sen Umfang aufz­u­fan­gen. Ärztliche Vor­sorge­un­ter­suchun­gen und das hier­mit in Verbindung ste­hende Sys­tem der Dis­pen­saire-Betreu­ung wur­den zu einem der Instru­mente des vor­sor­gen­den Arbeitss­chutzes, um fehlende tech­nis­che Lösun­gen auszu­gle­ichen. Der all­ge­meine Kranken­stand (1981 betrug er 6,08, 1989 6,03) kon­nte trotz­dem in den 1980er Jahren nicht entschei­dend gesenkt wer­den. Und die kaum sink­enden Exponier­tendat­en bele­gen, dass ein spür­bar­er Ein­fluss auf die präven­tive Gestal­tung der Arbeits­be­din­gun­gen aus­blieb – sich­er nicht verur­sacht durch das Betrieb­s­ge­sund­heitswe­sen, aber auch nicht nach­haltig pos­i­tiv verän­dert (vgl. Abb. 7). Über Jahre hin­weg blieb rund jed­er vierte Beschäftigte gegenüber Gesund­heits­ge­fährdun­gen exponiert. Bezo­gen nur auf das Pro­duk­tion­sper­son­al sind 1989 rund 36 % exponiert, damit mehr als ein Drit­tel des gesamten Pro­duk­tion­sper­son­als (ohne psy­chis­che Belastungen).
Zu beacht­en ist in diesem Zusam­men­hang, dass der sehr hohe per­son­elle Ein­satz im betrieblichen Gesund­heitswe­sen für die Betriebe kosten­los war. Dieser doch sehr große sozialpoli­tis­che Aufwand war mit ein Baustein für die zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeit­en der DDR ger­ade in den 1980er Jahren, weil sie sich auf sozialpoli­tis­chem Gebi­et keine Ein­schränkun­gen erlauben wollte und kon­nte. Das Konzept der „Ein­heit von Wirtschafts- und Sozialpoli­tik“ forderte ins­beson­dere für den Woh­nungs­bau und für die Sub­ven­tion von Grund­nahrungsmit­teln, Mieten und Energie immer mehr Mit­tel, die aus der Wirtschaft abge­zo­gen wer­den mussten, um sie im Staat­shaushalt für diese Sub­ven­tio­nen zu konzen­tri­eren. Wet­trüsten, Ölkrise u. a. drama­tisierten die wirtschaftliche Sit­u­a­tion. Der hohe Aufwand im Staat­shaushalt für das betriebliche Gesund­heitswe­sen war möglicher­weise mit ein Puz­zle-Teil für den wirtschaftlichen Nieder­gang der DDR.
Der zen­tral­is­tis­che Auf­bau des DDR-Gesund­heitswe­sens trug die Absicht zur Regle­men­tierung der Zuständigkeit jed­er Ein­rich­tung für örtliche bzw. regionale Bere­iche in sich. Jede medi­zinis­che Ein­rich­tung und jed­er Arzt soll­ten einen fest umris­se­nen Ver­sorgungs­bere­ich betreuen. Damit ist der Nutzen zum Erhalt des Macht­monopols durch eine ständi­ge Steuerung der Behand­lung und durch totale Überwachung und Führung jedes Patien­ten offen­sichtlich. Freie Arzt­wahl war damit nicht vere­in­bar. Poli­tisch-ide­ol­o­gisch soll­ten die DDR-Bürg­er den Arzt ihres Ver­trauens frei wählen kön­nen. Die freie Wahl des Arztes war in Wirk­lichkeit aber den­noch sehr stark eingeschränkt. Im All­t­ag kon­nten sich die Beschäftigten dem direk­ten Zugriff der medi­zinis­chen Ein­rich­tun­gen ihres Betriebes nicht entziehen. Und dies war nicht nur als Vorteil für den Einzel­nen zu sehen, son­dern ermöglichte eine gläserne Betra­ch­tung für den Betrieb und andere Ein­rich­tun­gen. Die Partei besaß damit die uneingeschränk­te Kon­trolle über die Arbeits­be­freiung sowie den Gesund­heit­szu­s­tand der Beschäftigten und deren Ange­hörige. Die Arbeit­shy­gien­ein­spek­tio­nen waren ver­ant­wortlich für die Anleitung und Kon­trolle der Ein­rich­tun­gen des BGW. Ger­ade dadurch war eine zen­tral­is­tis­che Steuerung des Betrieb­s­ge­sund­heitswe­sens organ­isiert. Arbeitss­chw­er­punk­te der Betrieb­särzte wur­den vorgegeben.

Der Stellenwert des Arbeitsschutzes nimmt in der Ära Honecker ab

Die mit Erich Honeck­er seit sein­er Machtüber­nahme ein­geläutete sog. Ein­heit von Wirtschafts- und Sozialpoli­tik hat­te den Arbeitss­chutz zunehmend weniger the­ma­tisiert. Hinzu kam, dass ger­ade dann in den 1980er Jahren die sozialpoli­tis­chen Ambi­tio­nen in Wider­spruch mit den ökonomis­chen Möglichkeit­en der DDR geri­eten. Erwartungs­druck der Bevölkerung ein­er­seits und ver­füg­bare wirtschaftliche Ressourcen ander­er­seits führten sehr schnell in den 1980er Jahren dazu, dass die offizielle Poli­tik mit ihren Ver­laut­barun­gen unglaub­würdig wurde, konkrete Verbesserun­gen nicht wirk­lich ein­trat­en und dass auch der Arbeitss­chutz zu einem Rand­prob­lem verkam. Der finanzielle Spiel­raum für Arbeitss­chutz war unter den Bedin­gun­gen ein­er zen­tral ges­teuerten Wirtschaft nicht mehr da. Verbliebene Ressourcen des betrieblichen Gesund­heitss­chutzes wur­den zunehmend zur Sich­er­stel­lung der all­ge­meinen gesund­heitlichen Ver­sorgung genutzt und gin­gen so dem Anliegen eines betrieblichen Arbeitss­chutzes ver­loren. Die DDR-Führung ver­mochte es nicht, auch nur die ein­fache Repro­duk­tion der materiellen Bedin­gun­gen sicherzustellen. Mar­o­de Tech­nik, Des­or­gan­i­sa­tion, Ver­sagen der zen­tralen Pla­nung u. a. führten zu ein­er Sit­u­a­tion, die einem wirk­samen Arbeitss­chutz kaum Spiel­raum gab. Oft wur­den Vorschriften des Arbeitss­chutzes durch Aus­nah­megenehmi­gun­gen ausgehebelt.
Die Erwartun­gen der Beschäftigten an Verbesserun­gen der Arbeits­be­din­gun­gen waren hoch. Unter­suchun­gen zur sozialen Wirk­samkeit von Automa­tisierungslö­sun­gen bele­gen, dass rund 68 Prozent der Befragten in fünf großen Kom­bi­nat­en der met­al­lver­ar­bei­t­en­den Indus­trie eine Ein­schränkung gesund­heits­ge­fährden­der Arbeit erwarteten. Dies ist let­ztlich Aus­druck erlebter schlechter Arbeits­be­din­gun­gen. Der in der DDR wach­sende Ver­trauensver­lust der Men­schen gegenüber den Machthabern in den 1980er Jahren liegt auch in dieser erkennbar wer­den­den Ver­schlechterung der Arbeits­be­din­gun­gen begründet.
Analy­sen aus dem Herb­st 1989 und Früh­jahr 1990 über die Motive der von Ost- nach West­deutsch­land gezo­ge­nen Men­schen bele­gen, dass ein wesentlich­es Motivbün­del in den man­gel­haften Arbeits­be­din­gun­gen der DDR-Betriebe lag. Von 2.582 Befragten zu ihren Flucht- bzw. Über­sied­lungsmo­tiv­en gaben Anfang 1990 72 Prozent schlechte Arbeits­be­din­gun­gen an.
Es gab in den Betrieben ein­deutig eine Dom­i­nanz der Plan­er­fül­lung, die den Arbeitss­chutz ver­nach­läs­sigte. So nah­men die Führungskräfte den Arbeitss­chutz im Wider­spruch zu den Anforderun­gen an Plan­er­fül­lung und Gewin­ner­wirtschaf­tung war. Indika­tor hier­für ist exem­plar­isch die Explo­sion im Ölw­erk Riesa am 5.2.1979, bei der zehn Men­schen getötet und 39 zum Teil schw­er und weit­ere elf leicht ver­let­zt wur­den. Als Resümee aus der Summe aller Recht­spflichtver­let­zun­gen dieses Ereigniss­es ste­ht, dass den verurteil­ten Führungskräften „offen­bar die immer wieder geforderte Erfül­lung und ´gezielte Über­erfül­lung´ des Plans wichtiger [war] als die penible Ein­hal­tung von […] Arbeits‑, Gesund­heits- und Brand­schutzvorschriften.“ Es gibt eine Rei­he weit­er­er Beispiele (Kernkraftwerke Lub­min und Greif­swald, Erdgas­förderung in der Alt­mark, Chemiekom­bi­nat Buna, Sprengstof­fw­erk Schönebeck, …). Unglücks­fälle entste­hen in allen Staat­en aus unter­schiedlich­sten Grün­den. Sie ereigneten sich auch in West­deutsch­land. Das Erschreck­ende an den Fällen in der DDR ist, dass ein­fach­ste Arbeitss­chutz­maß­nah­men nicht gewährleis­tet waren. Die SED ging mit großen Worten zur Demon­stra­tion der Über­legen­heit des Sozial­is­mus um. Die Real­ität belegt dies anders. Die ver­nach­läs­sigte Arbeitssicher­heit ist eine der abscheulichen Erschei­n­un­gen der Ära Honecker.
Beson­ders drama­tisch stellte sich die Lage in der Chemie dar, speziell in Bit­ter­feld. Mehrfach befasste sich der DDR-Min­is­ter­rat mit der Prob­lematik (BArch, C 20/I/4–5768, 1986; BArch, DC 20/I/4 – 5876, 1986). Gebildet wurde eine Experten­gruppe „Zur Ein­gren­zung der Gefahren und zum Schutz der Werk­täti­gen“. So musste über ein Krisen­man­age­ment akute Gefahr für Leib und Leben abgeschwächt wer­den. In Nacht- und Nebe­lak­tio­nen wur­den Ende 1985 bis Anfang 1986 40 Einzel­maß­nah­men mit einem Umfang von 8,7 Mio. Mark real­isiert, um Schlimm­stes zu ver­hin­dern. Es gab Fes­tle­gun­gen zur ver­stärk­ten gesund­heitlichen Überwachung der Beschäftigten. Zusät­zliche Kuren soll­ten die Emo­tio­nen der Men­schen beschwichtigen.
Bit­ter­feld war seit Jahren in der DDR berüchtigt. Schon 1970 gab es eine Explo­sion mit zu bekla­gen­den Toten. Schließlich kommt es zu ein­er erneuten katas­trophalen Explo­sion. Der SPIEGEL berichtet: „Jahrzehn­te­lang, so das Resümee der bis­lang unter Ver­schluß gehal­te­nen Papiere, haben die Buna-Bosse mit dem Leben und der Gesund­heit ihrer Arbeit­er Rus­sis­ches Roulett gespielt. Obwohl die Kar­bidan­la­gen total über­al­tert und ver­schlis­sen waren, wurde weit­er­pro­duziert. War­nun­gen der staatlichen Auf­sicht vor Explo­sion­s­ge­fahren und selb­st Polit­büro-Beschlüsse zur Ren­ovierung der lebens­ge­fährlichen Kar­bidöfen wur­den ignori­ert. Die Devise hieß: Plan­er­fül­lung um jeden Preis, Katas­tro­phe inklu­sive.“ Und weit­er heißt es: „Zu wichtig war die Aufrechter­hal­tung der Kar­bid­pro­duk­tion. Rund 15.000 Arbeit­er waren bei Buna, dem größten Chemiekom­bi­nat der DDR, allein in diesem Betrieb­s­bere­ich beschäftigt. Das Kar­bid, Aus­gangsstoff für die Pro­duk­tion von Plas­tik, Lack­en, Far­ben und Phar­ma­ka, galt in der vom Welt­markt abgeschnit­te­nen DDR als uner­set­zbar.“ Und tat­säch­lich kam es im Feb­ru­ar 1990 zu einem fol­gen­schw­eren Unglück. Die Explo­sion eines Kar­bid­ofens im Schkopauer Buna-Werk war das schw­er­ste Unglück in der Geschichte des DDR-Chemiekom­bi­nates: Fünf Arbeit­er star­ben, 23 wur­den schw­er verletzt.
Solche unakzept­ablen Bedin­gun­gen blieben bis zum Ende der DDR eine typ­is­che Erschei­n­ung. Die Poli­tik der Pro­duk­tiv­itätssteigerung ohne wesentliche Investi­tio­nen erforderte Impro­vi­sa­tion im Arbeitss­chutz. Beson­ders stark ver­schlis­sen war eine Vielzahl von Pro­duk­tion­sag­gre­gat­en (Energieerzeu­gungsan­la­gen, Maschi­nen, Geräte, Arma­turen, Trans­port­mit­tel). Im Durch­schnitt tru­gen 1989 nach amtlichen Angaben in der Indus­trie der DDR über 54 Prozent und in der Bauwirtschaft rund 69 Prozent der maschinellen Aus­rüs­tun­gen das Etikett „schrot­treif“. Noch 1990 arbeit­eten in nicht weni­gen Betrieben Maschi­nen aus den 1940er Jahren und früher. Etwa 15 Prozent der in der Indus­trie täti­gen Pro­duk­tion­sar­beit­er ver­bracht­en ihre Zeit damit, alte und defek­te Maschi­nen zu repari­eren. Daher bes­timmten in vie­len Fällen neben teil­weis­er neuer Tech­nik bere­its voll abgeschriebene und zudem stark reparat­u­ran­fäl­lige Anla­gen als schwäch­ste Glieder der pro­duk­tion­stech­nis­chen Kette inner­halb der Betriebe das Gesamt­niveau der Automa­tisierung und Ratio­nal­isierung. Die daraus resul­tieren­den Maschi­ne­naus­fälle und „Havarien“ legten nicht sel­ten ganze Pro­duk­tions­ket­ten lahm. Nach dem Arbeitswis­senschaftler Man­fred Schw­eres kann von ein­er „Aus­quetschstrate­gie“ gesprochen wer­den, dem Fahren von Anla­gen bis zum Zusam­men­bruch. Die Ver­schleißquote des Aus­rüs­tungs­be­standes hat­te sich stetig ver­schlechtert (BArch, DC 20, 5311, 1988).
Im Zusam­men­hang mit der Diskus­sion zur Neu­fas­sung des Arbeits­ge­set­zbuch­es Mitte der 1970er Jahre sah sich die hierzu beste­hende Kom­mis­sion mit Forderun­gen kon­fron­tiert, die Gewährleis­tung der Arbeitssicher­heit in den Unternehmen verbindlich­er auszugestal­ten. Als Stand­punkt for­mulierte die Kom­mis­sion, dass dem nicht gefol­gt wer­den kann, weil dies „nicht den Bedin­gun­gen der Prax­is entspricht.“ (BArch, DQ 3/42, 1977). Let­ztlich wurde in der DDR um die grundle­gende wirtschaftliche Ori­en­tierung Soziales drapiert. Arbeitss­chutz als Bestandteil der Sozialpoli­tik war nicht kom­pen­satorisch, son­dern pro­duk­tion­sori­en­tiert. Trotz klar­er Forderun­gen im Recht und Ori­en­tierun­gen auf primär tech­nis­che Gestal­tung der Arbeitssicher­heit seit Beste­hen der DDR musste in der betrieblichen Wirk­lichkeit in erster Lin­ie über Unter­weisung u. Ä. auf die Ver­mei­dung von Gesund­heitss­chä­den Ein­fluss genom­men werden.
Im Zusam­men­hang mit der Sozialpoli­tik wurde also der Arbeitss­chutz nicht beson­ders befördert. Es blieben die Ver­stöße gegen das gel­tende Recht, weil Investi­tion­s­mit­tel fehlten und der Ver­schleiß der Tech­nik immer größer wurde. Auch die starke Focussierung auf Plan­er­fül­lung rück­te den Arbeitss­chutz in den Hintergrund.
Eine Verteilung von Mit­teln erfol­gte nicht nach Sacher­fordernissen des Arbeitss­chutzes. Dom­i­nant waren oft­mals auch ide­ol­o­gis­che Erwä­gun­gen. Es wur­den Export­be­triebe vor­rangig bedacht oder Unternehmen, bei denen es darum ging, das inter­na­tionale Renom­mee, das sich die DDR auf manchen Gebi­eten geschaf­fen hat­te, zu erhal­ten und weit­erzuen­twick­eln. Die Poli­tik der Unter­stützung ander­er Staat­en, die den Auf­bau des Sozial­is­mus ver­fol­gten, wirk­te im Arbeitss­chutz störend (z. B. Ein­fuhr von Arbeitss­chutzk­lei­dung aus Viet­nam immer mit erhe­blichen Ter­min­verzögerun­gen und in falschen Größen und Sortimenten).
Wie bere­its unter Ulbricht mussten auch in der Ära Honeck­er Strafge­fan­gene unter unge­set­zlichen Arbeits­be­din­gun­gen tätig wer­den (vgl. hierzu den Beitrag in Sicher­heitsin­ge­nieur Heft 10/2007). Aus den 1980er Jahren wird von mehreren Zeitzeu­gen über eine ekla­tante Ver­let­zung von Arbeitss­chutzvorschriften ins­beson­dere beim Arbeit­sein­satz von Strafge­fan­genen berichtet.

Reaktive Arbeitsschutzpolitik tritt an die Stelle gestaltender Politik

Die Gew­erkschaften stell­ten bei ihren Kon­trollen wieder­holt ein Zurück­bleiben der Wirk­lichkeit hin­ter den rechtlichen Forderun­gen zum Arbeitss­chutz fest. Ein ständi­ges Anwach­sen der Luftschad­stoffe führten sie auf unzure­ichende Maß­nah­men in den Betrieben zurück (SAP­MO-BArch, DY 34/25255, 1974). Zugle­ich kon­sta­tierten sie, dass das Pro­duk­tion­saufkom­men zur Absaugung usw. hin­ter dem Bedarf zurück­blieb und die Betriebe keine Lösun­gen ein­set­zen kon­nten. 1975 blieb das Aufkom­men zu 25 Prozent unter dem Bedarf (SAP­MO-BArch, DY 34/25255, 1974). Ungenü­gende Fer­ti­gungska­paz­itäten bestanden auch für schallschutztech­nis­che Mit­tel (SAP­MO-BArch, DY 34/25255, 1974). Materielle Grund­la­gen fehlten zur Ver­sorgung mit Sicher­heitsven­tilen, Be- und Entlüf­tungsan­la­gen und vielem mehr. Es fehlten tech­nis­che Mit­tel zur Schad­stoff­bekämp­fung sowie zur Lärm- und Schwingungsab­wehr. Eng­pässe bestanden bei Mess­geräten für Luftschadstoffe.
Arbeitss­chutzpoli­tik deformierte zu reak­tiv­er, zen­tral organ­isiert­er Ein­flussnahme auf Eng­pässe bei der Ver­sorgung mit Arbeitss­chutzmit­teln und Arbeitss­chutzk­lei­dung als Massen­er­schei­n­ung in den 1980er Jahren. Arbeitss­chutzpoli­tik wurde zur Verteilungspoli­tik. Bere­its 1971 erkan­nte der FDGB-Bun­desvor­stand: „Gegen­wär­tig ist die Ver­sorgung mit Arbeitss­chutztech­nik, Arbeitss­chutzk­lei­dung und –mit­teln unzure­ichend. […] In allen Wirtschaft­szweigen wird der Bedarf unvoll­ständig gedeckt.“ (SAP­MO-BArch, DY 34/24927, 1971). Die Dom­i­nanz wirtschaftlich­er Ein­flüsse und zen­traler Ver­wal­tung von Män­geln zeigte sich im Arbeitss­chutz z. B. in jährlich mehreren Beschlüssen des DDR-Min­is­ter­rates zur Sicherung der Ver­sorgung mit per­sön­lichen Schutzaus­rüs­tun­gen. Das Kabi­nett der Regierung der DDR, manch­mal sog­ar das Prä­sid­i­um des DDR-Min­is­ter­rates befasste sich mehrmals im Quar­tal mit der Ver­sorgung mit Atem­schutz oder anderen Arbeitss­chutzmit­teln! Was für ein Armut­szeug­nis! Aktion­is­mus ist erkennbar. Als Beweis gilt die Vielzahl der Sitzun­gen des DDR-Min­is­ter­rats zur Ver­sorgungslage auf dem Gebi­et per­sön­lich­er Schutzaus­rüs­tun­gen in den Archiv­en. Die Akten des Bun­de­sarchivs bele­gen: Zum Teil mehrmals jährlich musste über eine zen­trale Ein­flussnahme auf höch­ste Ebene die Ver­sorgung mit per­sön­lich­er Schutzaus­rüs­tung einiger­maßen gesichert werden.
Die Ver­sorgung der Beschäftigten auf diesem Gebi­et der Arbeits­be­din­gun­gen schien poli­tisch wichtig. So muss dieses ständi­ge Befassen mit den Eng­pässen als Ver­such gese­hen wer­den, die Stim­mung in der Bevölkerung zu beherrschen, denn die Beschäftigten erleben per­sön­liche Schutzaus­rüs­tun­gen als prak­tizierten Arbeitss­chutz. Arbeitss­chutzanzüge wur­den aus Viet­nam importiert, weil die DDR-Kapaz­itäten nicht aus­re­icht­en. Dort, wo eine bes­timmte Pro­duk­tion hätte in Gang gebracht wer­den kön­nen, wie z. B. bei der Arbeitss­chutzk­lei­dung, befand sich die DDR in einem Teufel­skreis: Obwohl ja die Pro­duk­tion in der Tex­tilin­dus­trie möglich gewe­sen wäre, set­zte man die Kapaz­itäten hier ein, um Tex­tilien herzustellen, die für den Export in den West­en und damit für die Devisenbeschaf­fung gedacht waren. Das sich auf sozial­is­tis­chem Wege befind­liche Viet­nam sollte dage­gen im Sinne des Klassenkampfes gefördert wer­den; so wur­den Erzeug­nisse in man­gel­hafter Qual­ität von dort importiert.
Fortschritte im Arbeitss­chutz ent­standen in den 1980er Jahren durch das Engage­ment aufgeschlossen­er Führungskräfte, durch unduld­same und aktive Sicher­heits­fachkräfte sowie durch beson­deres sicher­heits­gerecht­es Ver­hal­ten der Beschäftigten, aber nicht mehr durch arbeitss­chutzgerechte Gestal­tung der Arbeits­be­din­gun­gen. Die sekundäre Präven­tion wurde auch über den medi­zinis­chen Arbeitss­chutz mit ihrer Unter­suchungsmedi­zin aus­ge­baut, um die durch fehlges­teuerte Wirtschafts- und Investi­tion­spoli­tik zunehmend ver­nach­läs­sigte primäre Präven­tion und die damit ein­herge­hen­den Ein­flüsse auf die Gesund­heit der Beschäftigten zu kompensieren.
Die äußerst pos­i­tive Entwick­lung der Arbeit­sun­fälle (vgl. Abb. 9) ste­ht im Gegen­satz zu den vielfälti­gen Ein­schätzun­gen, dass eine nach­haltige Präven­tion durch Gestal­tung der Arbeits­be­din­gun­gen in der DDR nicht möglich war. Es ist dabei in Rech­nung zu stellen, dass die Sen­si­bil­isierung der Führungskräfte und auch der Beschäftigten sehr hoch war, sich um Arbeitss­chutz zu küm­mern. Die vielfälti­gen Qual­i­fizierungsak­tiv­itäten hat­ten eine solche Sen­si­bil­isierung maßge­blich befördert. Der Befähi­gungsnach­weis zum Arbeitss­chutz musste durch Führungskräfte kon­tinuier­lich wieder­holt wer­den. Die monatlichen Arbeitss­chutz­belehrun­gen wur­den kon­se­quent und sehr regelmäßig durchge­führt. Dies war tat­säch­lich Prax­is – auch wenn die inhaltliche Aus­gestal­tung der Belehrun­gen nicht immer den Anforderun­gen entsprach. Kon­ti­nu­ität und per­ma­nente The­ma­tisierun­gen und Schu­lun­gen waren ausschlaggebend.
Die in der DDR 1989 erre­ichte sehr niedrige Unfal­lquote von 22,0 meldepflichti­gen Unfällen pro 1.000 Vollbeschäftigten war unter diesen Bedin­gun­gen sehr beachtlich. In der Bun­desre­pub­lik beträgt die Unfal­lquote im Jahre 1990 54,4 pro 1.000 Vol­lar­beit­er, damit etwa das Zweiein­halb­fache der DDR, erre­icht auch aktuell im ver­gan­genen Jahr 2011 noch nicht dieses Niveau der DDR. Obwohl aus vie­len anderen The­menge­bi­eten der DDR Fälschun­gen der Sta­tis­tik bekan­nt sind, kann dies bis­lang für die Unfal­lzahlen nicht nachgewiesen wer­den. Ver­schiedene spezielle Unter­suchun­gen zur Unfall­sta­tis­tik der DDR kom­men alle zu dem Ergeb­nis: Diese Sta­tis­tiken scheinen nicht manipuliert.
Für rund jeden vierten Beschäftigten waren die Gren­zw­erte arbeit­shy­gien­is­ch­er Nor­men über­schrit­ten, bestand damit nach­weis­bar die Möglichkeit eines Gesund­heitss­chadens. Bezo­gen nur auf das Pro­duk­tion­sper­son­al waren dies sog­ar mehr als ein Drit­tel. Jed­er 5. Arbeit­splatz musste als drin­gend umgestal­tungsnotwendig eingestuft wer­den, weil Gren­zw­erte über­schrit­ten waren.
Es ent­stand eine zunehmende Kluft zwis­chen zen­tralen Leitideen des rechtlich gefassten und auch wis­senschaftlich begrün­de­ten Arbeitss­chutzes (Pri­mat der sicheren Tech­nik) und der prak­tis­chen Umset­zung tech­nis­ch­er Lösun­gen wegen fehlen­der Mit­tel. Bre­it anzutr­e­f­fen waren Erschei­n­un­gen völ­li­gen Ver­al­tens sicher­heit­stech­nis­ch­er Lösun­gen sowie ein­er Flut von Aus­nah­megenehmi­gun­gen und Son­der­regelun­gen zu Arbeitsschutzvorschriften.
Ein Zeitzeu­gen­in­ter­view schildert die Real­ität: „Es ging nicht viel umzuset­zen, es wurde ein Maß­nah­me­plan geschrieben, und es wurde dann alles nicht real­isiert, und dann wur­den wieder Begrün­dun­gen dafür geschrieben, dass die Maß­nah­men nicht durchge­set­zt wer­den kon­nten – und neue Schlussfol­gerun­gen. Und es war ein riesiger Papier­tiger und das war let­ztlich sehr ermü­dend am Ende dieser DDR-Zeit dann.“
Ein Teil des Gehalts der Führungskräfte und von Sicher­heitsin­spek­toren wurde in ein­er Rei­he von Betrieben an die Senkung des Unfallgeschehens gebun­den. Die Verbesserung des Arbeitss­chutzes wurde Kri­teri­um für die Gewährung von Jahre­send­prämien. Dies ori­en­tierte auf schnelle Wirk­samkeit von Anstren­gun­gen – und das ging let­ztlich nur durch Ein­flussnahme auf das Ver­hal­ten der Beschäftigten.
Fak­tisch war es so, dass die Anforderun­gen an das Ver­hal­ten dominierten und den Betrieben oft keine andere Möglichkeit blieb. Ent­standen war die TGL 30104 „Gesund­heits- und Arbeitss­chutz Brand­schutz; Arbeits- und brand­schutzgerecht­es Ver­hal­ten; All­ge­meine Fes­tle­gun­gen“. Sie enthält Ver­hal­tens­festle­gun­gen, mit denen Arbeitssicher­heit erre­icht wird, die mit tech­nis­chen Mit­teln nicht oder nur unvol­lkom­men erre­ich­bar war.

Die zunehmende Ideologisierung des Arbeitsschutzes

Das Fachge­bi­et Arbeitss­chutz wurde für eine Ver­bre­itung ide­ol­o­gis­ch­er kom­mu­nis­tis­ch­er Ansätze benutzt. So wurde in die Aus­bil­dung der Fachin­ge­nieure für Arbeitss­chutz – wie son­st auch bei anderen Aus­bil­dungs­bere­ichen der DDR – ein hoher Stun­denan­teil Marx­is­mus-Lenin­is­mus ein­ge­ord­net. Das weit ver­bre­it­ete Hand­buch für den Gesund­heits- und Arbeitss­chutz nan­nte als Auf­gabe und Ziel, den Arbeitss­chutz als „fes­ten Bestandteil der Ausübung der poli­tis­chen Macht der Arbeit­erk­lasse“ zu ver­ste­hen. „Durch die Aus- und Weit­er­bil­dung der Werk­täti­gen auf dem Gebi­et des GAB (Gesund­heits- und Arbeitss­chutzes sowie Brand­schutzes) sind die Werk­täti­gen immer bess­er zu befähi­gen, diesen his­torischen Prozeß [der Ausübung der poli­tis­chen Macht] bei stets wach­senden gesellschaftlichen Erfordernissen erfol­gre­ich zu meistern.“
Als Grund­lage der Aus- und Weit­er­bil­dung wurde an erster Stelle die „Weltan­schau­ung der Arbeit­erk­lasse, der Marx­is­mus-Lenin­is­mus“ genan­nt. Gesund­heit­shelfer hat­ten in ihren Kursen zur Ersten Hil­fe auch Schu­lung in Marx­is­mus-Lenin­is­mus. Es bestand eine Anweisung über die marx­is­tisch-lenin­is­tis­che Weit­er­bil­dung der Ärzte und Zah­närzte in der Weit­er­bil­dung zum Facharzt/Fachzahnarzt und der Dok­toran­den der medi­zinis­chen Wis­senschaft von 1977. Das Abver­lan­gen entsprechen­der Fak­ten, vielfach Glaubenssätzen in den Exam­i­na wurde zwar hin­genom­men, es wird aber auch von vere­inzel­tem Wider­stand berichtet. Wollte Wal­ter Ulbricht mit 10 Geboten sozial­is­tis­ch­er Moral, deren Einord­nung in die Ver­fas­sung und ein­seit­iger Aus­rich­tung auf Pflichtwerte eine Mar­gin­al­isierung der Selb­stent­fal­tung, ver­tritt Erich Honeck­er nun­mehr den Zielgedanken der all­seit­ig entwick­el­ten Per­sön­lichkeit. Die Bil­dungsak­tiv­itäten gehen auch im Arbeitss­chutz in diese Rich­tung. Die Arbeitss­chutzpoli­tik in der sozial­is­tis­chen Gesellschaft wurde für die Bil­dung ide­ol­o­gisch dargestellt als „etwas qual­i­ta­tiv anderes, als es die besten­falls – und mit völ­lig unzure­ichen­den Mit­teln – auf die Repro­duk­tion der Arbeit­skraft gerichteten Maß­nah­men sind, die unter kap­i­tal­is­tis­chen Bedin­gun­gen getrof­fen wer­den. Die Aus­beu­tungsver­hält­nisse, die Prof­it­in­ter­essen der herrschen­den Bour­geoisie erricht­en auch auf diesem Gebi­et unüber­steig­bare Schranken.“
Die 1973 beschlosse­nen Richtlin­ien für die Aus­bil­dung der Arbeitss­chutzin­spek­toren der Gew­erkschaft nan­nten als ersten Schw­er­punkt „Studi­um zen­traler Beschlüsse von Partei und Gew­erkschaft.“ (SAP­MO-BArch, DY 34/25255, 1973).
Die sog. „Mil­itärmedi­zin“ wurde in den Arbeitss­chutz infil­tri­ert. Es war generell bindend, dass im Studi­um der Medi­zin das Lehrge­bi­et „Mil­itärmedi­zin“ absolviert wer­den musste, um als Arzt Grund­ken­nt­nisse und Fer­tigkeit­en „zur Behand­lung Geschädigter nach Ein­satz von Massen­ver­nich­tungsmit­teln, bei Katas­tro­phen und Havarien“ zu haben. Bere­its mit dem Bil­dung­spro­gramm Facharzt für Arbeit­shy­giene vom 20.2.1979 hat­te der Min­is­ter für Gesund­heitswe­sen ver­fügt, dass Bestandteil der Facharztweit­er­bil­dung mil­itärmedi­zinis­che Bil­dungsan­forderun­gen sein mussten.
Sys­tem­be­d­ingt unter­la­gen die Ange­höri­gen medi­zinis­ch­er Berufe sowohl während ihrer Schulzeit als auch während ihrer Aus­bil­dungszeit ein­er ständi­gen poli­tisch-ide­ol­o­gis­chen Indok­tri­na­tion. Als Voraus­set­zung für eine qual­i­ta­tiv und quan­ti­ta­tiv hohe medi­zinis­che und soziale Betreu­ung galt nach sozial­is­tis­chem Selb­stver­ständ­nis „ein poli­tisch-ide­ol­o­gis­ches Bewußt­sein auf der Grund­lage der Lehren des Marx­is­mus-Lenin­is­mus“. Diese knappe Aus­sage lässt schon die hohe Ide­olo­gierel­e­vanz ärztlich­er Arbeit deut­lich wer­den. DDR-Medi­zin­er hat­ten nach den Beschlüssen des IX. Parteitages der SED in erster Lin­ie Kom­mu­nis­ten zu sein und waren Staats­di­ener. Erst dann hat­ten Betrieb­särzte die erforder­lichen Ken­nt­nisse zu besitzen, „um in arbeitswis­senschaftlichen Kat­e­gorien denken zu kön­nen.“ In der DDR begann beispiel­sweise der Eid des Hip­pokrates mit ein­er Verpflich­tung zur sozial­is­tis­chen Gesellschaft und zum DDR-Staat als Vater­land. In der DDR wurde der „Eid des Hip­pokrates“ unter Bezug auf das Gesellschaftssys­tem mit fol­gen­den Worten ein­geleit­et: „In hoher Verpflich­tung gegenüber der sozial­is­tis­chen Gesellschaft und ihren Bürg­ern, eng ver­bun­den mit der Deutschen Demokratis­chen Repub­lik, gelobe ich […].“
Die mit der vom VIII. Parteitag der SED ein­geleit­ete Grundlin­ie der Poli­tik auf Erhöhung des materiellen und kul­turellen Leben­sniveaus schloss eine Verbesserung des Arbeitss­chutzes von der Sache her ein. Mit der zunehmenden Akzep­tanz ein­er Sozialpoli­tik im Sozial­is­mus, der proklamierten Ein­heit von Wirtschafts- und Sozialpoli­tik durch Erich Honeck­er kon­nte man sich auch spez­i­fis­chen sozialpoli­tis­chen Aspek­ten des Arbeitss­chutzes zuwen­den. Waren bere­its in den 1960er Jahren ver­stärkt Beziehun­gen zwis­chen dem Arbeitss­chutz und der gesamt­ge­sellschaftlichen Repro­duk­tion hergestellt wor­den, so wurde dieser Zusam­men­hang nun­mehr ver­stärkt betont. Wichtiger Vertreter dieser Rich­tung war Ger­hard Tiet­ze von der Gew­erkschaft­shochschule in Bernau. Diese The­ma­tisierung war eher poli­tisch motiviert und ide­ol­o­gisiert. Der direk­te prak­tis­che Nutzen in Verbesserun­gen der Arbeits­be­din­gun­gen blieb dabei aus.

Gezielte Desinformation

Arbeit­sun­fälle und Beruf­skrankheit­en sanken real; diese dur­chaus pos­i­tive Entwick­lung wurde stark in die Öffentlichkeit getra­gen. Über die tat­säch­liche Ver­schlechterung der Arbeits­be­din­gun­gen sowie der Zunahme von Gefährdun­gen und Belas­tun­gen wurde die Öffentlichkeit aber im Unklaren gelassen oder desin­formiert. Analy­sen zur Entwick­lung der arbeit­shy­gien­is­chen Bedin­gun­gen, die in den 1980er Jahren erstellt wur­den, blieben alle als ver­trauliche Dien­st­sache oder sog­ar Ver­schlusssache eingestuft. Erst nach 1989 wur­den Über­sicht­en offen gelegt.
In der DDR wur­den Instru­mente zur Erhe­bung psy­chis­ch­er Belas­tun­gen entwick­elt. Es existieren Frage­bö­gen, mit deren Hil­fe Symp­tome abge­fragt wer­den kon­nten, die psy­chis­che Belas­tun­gen und Beanspruchun­gen charak­ter­isieren. Ihr Ein­satz war aber nicht möglich. Ein 1990 ent­standenes Gutacht­en trifft die Ein­schätzung, dass „manch­es davon nicht benutzt wer­den durfte – sozi­ol­o­gis­che Befra­gun­gen seien ver­pönt gewe­sen; die Angst, dass Unan­genehmes her­auskäme, zu groß.“ Obwohl solche Instru­mente vor­la­gen, enthielt die offiziell her­aus­gegebene Methodik zur Arbeit­shy­gien­is­chen Kom­plex­analyse 1988 unter dem Abschnitt „Psy­chis­che Belas­tun­gen und Beanspruchun­gen“ lediglich den Ver­merk „Methodik in Vorbereitung“.
Die Inten­sivierung der Pro­duk­tion wurde von der SED zum entschei­den­den Ket­tenglied proklamiert, hier­mit ver­bun­den waren reale Ver­schlechterun­gen der Arbeits­be­din­gun­gen. Wis­senschaftliche Pub­lika­tio­nen belegten dies. Bere­its Anfang der 1970er Jahre wur­den erst­ma­lig Über­sicht­en zu den Arbeits­be­din­gun­gen und den vorhan­de­nen Gefährdun­gen in den Betrieben veröf­fentlicht. Nach­dem die 2. Auflage dieser Pub­lika­tion im Rund­funk der Bun­desre­pub­lik referiert wurde mit dem Hin­weis, poli­tis­che Ver­laut­barun­gen der SED und Erken­nt­nisse der Wis­senschaft der DDR wür­den Wider­sprüche offen leg­en, kam es für Autor, Ver­lag und Gutachter zu Parteiver­fahren. Anforderun­gen an die Veröf­fentlichun­gen zur Sit­u­a­tion im Arbeitss­chutz wur­den unter dem Aspekt des „Klassenkampfes“ erhe­blich ver­schärft. So find­en sich in den Fol­ge­jahren über­wiegend Erfol­gsmeldun­gen zur Entwick­lung des Arbeitss­chutzes, beispiel­sweise zur Um- und Neugestal­tung von Arbeit­splätzen mit Verbesserun­gen der Arbeits­be­din­gun­gen. Als markantes Beispiel für wirtschaftliche Dom­i­nanz gegenüber Arbeitss­chutzer­fordernissen ste­ht die Ver­schleierung der Gesund­heits­ge­fahren durch Asbest. Wis­senschaftliche Erken­nt­nisse hat­ten die beson­deren Risiken längst the­ma­tisiert. Als Geheime Ver­schlusssache wurde 1981 eine Infor­ma­tion des Min­is­ter­rates zu den Gefahren durch Asbest eingestuft (BArch, C 20/I/4 – 4721, 1981). Zu dieser Zeit wur­den durch die DDR jährlich ca. 60.000 bis 70.000 t Asbest haupt­säch­lich aus der UdSSR und Kana­da importiert (BArch, DC 20/I/4 – 4721, 1981). Die Sit­u­a­tion war durch viele Aus­nah­megenehmi­gun­gen von arbeit­shy­gien­is­chen Stan­dards gekennze­ich­net, z. B. für Schwe­felkohlen­stoff, Queck­sil­ber, Ben­zol, Ammo­ni­ak, Vinylchlo­rid und Asbest. Beschäftigte waren über die Gesund­heits­ge­fahren, z. B. durch Asbest oder radioak­tive Stoffe, nicht informiert wor­den. Obwohl schon 1969 ver­boten, wurde mit Hil­fe von Aus­nah­megenehmi­gun­gen ins­beson­dere der gefährliche Spritzas­best weit­er verwendet.
Die SED behar­rte beson­ders in den 1980er Jahren auf ein­er Poli­tik der Zurück­hal­tung von Infor­ma­tio­nen, Recht­fer­ti­gung und Apolo­getik der beste­hen­den Zustände. Der stel­lvertre­tende Leit­er der ZK-Abteilung Agi­ta­tion der SED hat aus seinen Tage­büch­ern nach der Wende Beispiele für ver­botene The­men für die Berichter­stat­tung in den Medi­en zusam­mengestellt. Danach durfte beispiel­sweise nichts über Formalde­hyd („die Bürg­er kön­nten Angst vor Krebs bekom­men“) und nichts über Atom­kraftwerke („son­st wird ein sen­si­bles The­ma hochgeputscht“) veröf­fentlicht werden.
Das bes­tim­mende Merk­mal des Arbeitss­chutzes in den 1980er Jahren war sein Nieder­gang. Anspruch und Real­ität klafften immer weit­er auseinan­der. Das proklamierte Pri­mat der Tech­nik für die Gestal­tung sicher­er und gesund­heits­gerechter Arbeits­be­din­gun­gen ist erset­zt wor­den durch eine reak­tive Arbeitss­chutzpoli­tik, die auf Belehrung und schützende Ver­hal­tensweisen setzte.
Lesen Sie auch:
1 Es wird darauf verzichtet, die Vielzahl von Lit­er­aturquellen im Rah­men dieses Fach­beitrages zu kennze­ich­nen. Sie kön­nen ent­nom­men wer­den dem bre­it­er angelegten Fach­buch „Wien­hold, L.: Zwis­chen Anspruch und Wirk­lichkeit – His­torisch­er Abriss zum Arbeitss­chutz in der SBZ/DDR. München: GRIN-Verl. 2011“. Es ste­ht ein down­load als eBook zur Verfügung:
Autor
Dr. Lutz Wienhold
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