Beim Arbeitsschutz zeigte sich mit der Übernahme der Macht durch Erich Honecker, dass er nur noch einen nachgeordneten Stellenwert in der Politik hatte. Potenziell wäre durch die Betonung der Sozialpolitik durch Honecker eine eher stärkere Beachtung des Arbeitsschutzes zu erwarten gewesen. Aber in zentralen Beschlüssen der Partei wurde er immer weniger konkret thematisiert und angesprochen. Da Beschlüsse der SED aber allgemeine Richtschnur für die Aktivitäten auf den unterschiedlichsten Ebenen waren, war dies für die Umsetzung nicht förderlich.
Politische Forderungen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes nahmen zum Teil groteske Züge an, wie beispielsweise die Forderung in der Direktive des VIII. Parteitages der SED für den Fünfjahresplan 1971 bis 1975, in der es u. a. hieß: „Die Arbeitsschutz- und Brandschutzbestimmungen sind konsequent einzuhalten.“1 Die sehr starke Orientierung auf Wohnungsbau, solche sozialpolitischen Felder wie Löhne, Rente, Urlaub, Bau von Kinderkrippen und Kindergärten, ließen den Arbeitsschutz in den Schwerpunktbenennungen unbeachtet und stellten ihn gegenüber anderen Bereichen der Sozialpolitik in dieser Zeit in den Hintergrund.
Arbeitsschutz im Arbeitsgesetzbuch der DDR
Bereits 1971 wurde begonnen, im Rahmen der Vorbereitung eines neuen Arbeitsgesetzbuches (AGB) die grundlegenden Forderungen zum Arbeitsschutz neu zu fassen. Der Machtwechsel 1971 sowie der VIII. Parteitag der SED beschleunigten die Arbeiten. (SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2 A/1572, 1972). Eine vorausgegangene Diskussion um ein selbstständiges komplexes Arbeitsschutzgesetz war 1968 gescheitert. Das AGB erschien dann 1977 (GBl. der DDR I 1977, S. 185) und enthielt solche Grundsätze, wie insbesondere die
- Pflicht des Betriebes zur Gestaltung und Erhaltung sicherer, erschwernisfreier sowie die Gesundheit und Leistungsfähigkeit fördernder Arbeitsbedingungen
- Berücksichtigung der Erfordernisse des Arbeitsschutzes in der gesamten Führungstätigkeit
- Förderung der aktiven Mitwirkung der Beschäftigten bei der Durchsetzung des Arbeitsschutzes
- gewerkschaftlichen Rechte
- Pflicht zum Erlass erforderlicher betrieblicher Regelungen.
Es wurden hierauf aufbauend insbesondere konkrete Pflichten des Betriebes zur Gestaltung der Arbeitsmittel und Arbeitsverfahren, zur Bereitstellung von Körperschutzmitteln, zur arbeitsmedizinischen Betreuung, zum Einsatz von Sicherheitsinspektoren, zum besonderen Schutz von Frauen und Jugendlichen fixiert. Geregelt wurden die Befugnisse der Gewerkschaften und der staatlichen Kontrollorgane zum Arbeitsschutz.
Damit war eine sehr geschlossene und komplexe Regelung von Grundsätzen des Arbeitsschutzes erreicht worden (BArch, DQ 3/42, 1976).
Die Pflicht zur Gewährleistung des Arbeitsschutzes wurde in eine Generalklausel nach § 201 des AGB gefasst: „Der Betrieb ist verpflichtet, den Schutz der Gesundheit und Arbeitskraft der Werktätigen vor allem durch die Gestaltung und Erhaltung sicherer, erschwernisfreier sowie die Gesundheit und Leistungsfähigkeit fördernder Arbeitsbedingungen zu gewährleisten.“
Die besonderen Merkmale dieser Generalklausel bestehen damit in der
- Verantwortungszuweisung an den Betrieb
- präventiven Ausrichtung des Arbeitsschutzes
- Pflicht ständiger Erhaltung des Niveaus des Arbeitsschutzes (bezeichnenderweise fehlt hier die Orientierung auf Weiterentwicklung)
- Einheit von Schutz und Förderung der Gesundheit
Eine beabsichtigte Gleichsetzung von Pflichten des Betriebs einerseits und des Betriebsleiters im Arbeitsschutz andererseits wurde abgelehnt (BArch, DQ 3/11, 1973). Die persönliche Verantwortung für die Verwirklichung des Arbeitsschutzes sollte dadurch klarer werden, dass stärker zwischen den Pflichten des Betriebes als wirtschaftende Einheit und Partner von Arbeitsrechtsverhältnissen auf der einen Seite sowie den unmittelbar von Betriebsleitern und von leitenden Mitarbeitern wahrzunehmenden Pflichten auf der anderen Seite unterschieden wurde (BArch, DQ 3/36, 1973).
Den Gewerkschaften ging es um ihre konsequente Beteiligung an der Planung und Umsetzung des Arbeitsschutzes in den Betrieben. Es kann davon ausgegangen werden, das die westdeutsche Gesetzgebung hierbei Wirkung hatte. Das in der Bundesrepublik verbindliche Betriebsverfassungsgesetz v. 15.1.1972 (BGBl. I S. 13) gewährleistete den Einfluss des Betriebsrats durch Ausbau der Mitbestimmungsrechte sowie eine Vermehrung der Initiativ‑, Kontroll- und Teilnahmerechte der Gewerkschaften speziell im Arbeitsschutz.
Hierhinter wollte die DDR nicht zurückfallen. Beispielsweise wurde in der Diskussion zum Arbeitsgesetzbuch Kritik an der Mitwirkung der Beschäftigten und der Beachtung von ihren Vorschlägen geübt (BArch, DQ 3/12, 1973). Neu aufgenommen wurde nun das Recht der betrieblichen Gewerkschaftsleitungen, der ehrenamtlichen Arbeitsschutzinspektoren, der Arbeitsschutzkommissionen und Arbeitsschutzobleute, zu Projekten für neue oder zu rekonstruierende Arbeitsstätten und Betriebsanlagen die Gewährleistung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes zu fordern.
Noch 1976 intervenierte der Bundesvorstand des FDGB zum vorliegenden Entwurf des AGB und verlangte Änderungen, um insbesondere bei Projekten und Planungsprozessen Einfluss zu erhalten (BArch, DQ 3/41, 1976; BArch, DQ 3/42, 1976). Er fand es nicht angemessen, wenn den Gewerkschaften nur zugebilligt wurde – wie im Entwurf des AGB noch enthalten –, zu Fragen des Arbeitsschutzes Stellung zu nehmen, ohne das hieraus Konsequenzen für den Betrieb resultierten. Sie wollten das Recht, Erläuterungen zu verlangen und Forderungen zu erheben. So stand dementsprechend im verabschiedeten AGB: „Sie sind berechtigt, zu Projekten für neue oder zu rekonstruierende Arbeitsmittel und Arbeitsstätten Erläuterungen zu verlangen, Stellung zu nehmen, die Gewährleistung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes zu fordern und Vorschläge zu seiner weiteren Verbesserung zu unterbreiten.“
Das grundsätzliche Kontrollrecht der Gewerkschaften im Arbeitsschutz über die Arbeitsschutzinspektionen blieb erhalten.
Kontroverse Diskussionen gab es insbesondere zwischen dem Staatssekretariat für Arbeit und Löhne und dem Ministerium für Gesundheitswesen (MfG). Es war in den vorgelegten Positionen und Entwürfen des Kapitels zum Arbeitsschutz vom Staatssekretariat für Arbeit und Löhne immer von der Integration des betrieblichen Gesundheitsschutzes ausgegangen worden. Das MfG wollte dagegen eine relative Selbstständigkeit des Gesundheitsschutzes (BArch, DQ 3/41, 1976). Bereits 1964 war ein gesondertes „Rahmengesetz für arbeitshygienische Normative“ gefordert worden (SAPMO-BArch, DY 34/8531, 1964). Die Einordnung des betrieblichen Gesundheitsschutzes vom Grundsatz her blieb aber dann doch nach langen Verhandlungen durch das Gesundheitsministerium akzeptiert. Trotzdem gab es im Detail immer wieder zum Teil sich widersprechende Einsprüche, wenn es um die Ausgestaltung ging und hierbei die Zuständigkeit des Gesundheitswesens angesprochen oder betroffen war.
Von strategischer Bedeutung für das neue AGB waren die
- Einordnung des Arbeitsschutzes in die betriebliche Organisation und Führung
- beschworene „Einheit von Erziehung und Bildung“ der Beschäftigten in Verbindung mit betrieblichen Schulungen und Unterweisungen im Arbeitsschutz sowie um die
- Orientierung auf betriebliche Regelungen im Arbeitsschutz, die das Recht konkretisieren
Mit der Rechtspflicht in Abs. 2 § 201 des AGB „Der Betriebsleiter und die leitenden Mitarbeiter sind verpflichtet, die Erfordernisse des Gesundheits- und Arbeitsschutzes sowie Brandschutzes als Bestandteil der Leitung und Planung des Reproduktionsprozesses zu verwirklichen“ wurde eine verbindliche Orientierung auf Einordnung des Arbeitsschutzes in betriebliche Strukturen und Prozesse gegeben. Dies war in dieser Zeit eine neue Qualität der Durchsetzung des Arbeitsschutzes.
Eine neue Art rechtlicher Forderungen an die Betriebe zum Arbeitsschutz entstand durch das AGB von 1977, indem die Unternehmen verpflichtet wurden, das staatliche Recht in Eigenverantwortung auszugestalten (BArch, DQ 3/42, 1976). So wurde als grundlegende Linie verfolgt, in den Vorschriften Schutzziele zu verankern und in betrieblicher Zuständigkeit eigene Standards (betriebliche Regelungen) zu setzen.
Das 10. Kapitel Gesundheits- und Arbeitsschutz des AGB wurde durch die Arbeitsschutzverordnung – ASVO – v. 1.12.1977 (GBl. der DDR I 1978, S. 405) sowie durch die Verordnung über das Betriebsgesundheitswesen und die Arbeitshygieneinspektion v. 11.1.1978 (GBl. der DDR I 1978, S. 61) – also zweigleisig – weiter ausgestaltet.
Neuordnung der Arbeitsschutzvorschriften über Standards
1964 setzte eine Orientierung auf Standardisierung (Normung) von Arbeitsschutzforderungen ein. Der Wissenschaftler Hermann Tetzner betonte bereits zu dieser Zeit, dass die Standards gewohntes Handwerkzeug des Ingenieurs seien, aber eine Arbeitsschutzanordnung als allgemeine Vorschrift eher nicht. Es entstanden erste Konzepte der Überführung von Arbeitsschutzanordnungen in Standards. Die Überlegungen sahen zunächst vor, technische Einzelheiten zur Konkretisierung der Arbeitsschutzanordnungen in überbetrieblichen Standards festzulegen. Diesen Ansatz enthielt ein Entwurf zur Neufassung der Arbeitsschutzverordnung aus dem Jahre 1967 (SAPMO-BArch, DY 34/8530, 1967), der aber nicht umgesetzt wurde. Konkret wurden diese Ansätze dann in den 1970er und 1980er Jahren aufgegriffen, in denen es eine breitere Standardisierungswelle zum Arbeitsschutz gab.
Neben solchen fachlichen Gründen ging es in der Ära Honecker nun aber eher um politisch-wirtschaftliche Erwägungen. Die in den Arbeitsschutzregelungen enthaltenen technischen Vorschriften für Arbeitsmittel führten wiederholt zu Problemen beim Import von Maschinen und Geräten aus der Sowjetunion. Insbesondere importierte Hebezeuge, Baumaschinen, Werkzeugmaschinen oder elektrotechnische Güter aus der UdSSR mussten nachgerüstet werden. Durch Maschinenimporte aus dem sozialistischen Ausland gingen jährlich Millionen verloren, weil die Maschinen auf DDR-Niveau umgerüstet werden mussten. Die Forderungen in Arbeitsschutzanordnungen waren in einem langen Prozess immer wieder fortgeschrieben und dem Stand der Technik angepasst worden. Die Anordnungen hatten ihre Wurzeln in den Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften aus der Zeit vor 1945 und galten allg. als hoher Standard des Arbeitsschutzes. Punktuelle Erkenntnisse wurden nun zu einer Kampagne genutzt, Forderungen des Arbeitsschutzes als „nicht notwendig“ zu erklären (BArch, DC 20/I/4 2656).
Diese politische Entwicklung wurde bereits 1961 durch die Staatliche Plankommission (SPK) angestoßen (SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2029, 1961). Die SPK proklamierte u. a.: „Ein wesentliches Hindernis für die Sicherung der Wirtschaft der DDR gegen willkürliche Maßnahmen militaristischer Kreise Westdeutschlands besteht darin, dass Importforderungen in der Regel nach Normen spezifiziert werden, die nur für Bezüge aus Westdeutschland anwendbar sind. […] Das Amt für Standardisierung wird beauftragt, [alles zu tun], um zu einer noch engeren Zusammenarbeit mit dem Komitee für Standards, [Maße] und Messgeräte beim Ministerrat zu kommen, damit neu zu entwickelnde TGL und GOST-Standards [in Übereinstimmung] gebracht werden.“ Solche Fragen wurden sogar ideologisiert: „Die ungenügende Nutzung der Möglichkeiten zur Anwendung von technischen Bestimmungen und Gütevorschriften der UdSSR ist aber auch Ausdruck von Mängeln der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit in den für die Importvorbereitung verantwortlichen Organen.“ (BArch, DC 20/I/4 – 2656, 1972).
Für die DDR war erklärtes Ziel, die Standards zwischen der UdSSR und der DDR generell zu vereinheitlichen (BArch, DC 20/I/4 – 2656, 1972). Für den Arbeitsschutz war speziell festgelegt worden, die in Arbeitsschutzanordnungen enthaltenen Festlegungen schrittweise in Standards zu überführen (SAPMO-BArch, DY 34/ 25255, 1972). So mussten alle das grundsätzliche Recht des Arbeitsschutzes spezifizierende Forderungen faktisch mit der UdSSR vereinheitlicht werden.
Geschaffen wurde ein Klassifizierungssystem für die Arbeitsschutzstandards. Hiermit verbunden war eine bessere Überschaubarkeit der spezifischen Arbeitsschutzregelungen. Ein Konzept zur Klassifizierung wurde selbstständig in der DDR entwickelt. Umgesetzt wurde aber ein Klassifizierungssystem nach dem Modell der Sowjetunion. Verantwortlich waren für grundlegende Standards zum Arbeitsschutz das Staatssekretariat für Arbeit und Löhne, für fachspezifische und branchenbezogene Standards die in der DDR bestehenden verschiedenen Industrieministerien (z. B. das Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali, das Ministerium für Kohle und Energie usw.). Diese Verantwortung bestand bereits bei den branchenbezogenen Arbeitsschutzanordnungen, die ursprünglich auf der Branchenspezifik der Berufsgenossenschaften beruhten.
Bis 1988 war ca. ein Viertel der über 200 Arbeitsschutzanordnungen durch Standards abgelöst worden. Der Prozess der Ausarbeitung von Standards gestaltete sich als außerordentlich zäh durch komplizierte und bürokratische Abstimmungen mit der Sowjetunion bilateral und im COMECON multilateral. Hierbei blieben viele gute Ansätze auf der Strecke. In zum Teil zähen Verhandlungen zwischen dem Staatssekretariat für Arbeit und Löhne und GOSSTANDARD, als dem zuständigen zentralen sowjetischen Standardisierungsorgan für grundlegende Standards, zeigten sich von sowjetischer Seite oftmals keinerlei Kompromisse an ihren Regeln. In den Verhandlungen kam es dazu, dass die sowjetische Seite nicht Entwürfe zur Verhandlung stellte, sondern bereits zuvor bestätigte GOST als Normen der UdSSR. Es gab Fälle, in denen die sowjetische Verhandlungsdelegation sich auf keinerlei Sachargumente einließ, sondern stur auf ihre Positionen zurückzog. So kamen statt Sachargumente sogar Siegermentalitäten nach dem 2. Weltkrieg von sowjetischer Seite offen zur Sprache. Es entstanden in einer Reihe von Standards eher bürokratische Floskeln, weniger sachlich-fachlich vereinheitlichte Standards. Die Sowjetunion hatte nur das Anliegen, ihre Bestimmungen durchzubringen. Dem Kernanliegen vereinheitlichter Forderungen wurde nur bedingt entsprochen.
Die Arbeitsmedizin war in dieses System der Arbeitsschutzstandards nicht integriert. Das MfG beharrte auf einem eigenständigen System arbeitshygienischer Standards. Nachdem bereits in den 1950er Jahren erste arbeitshygienische Normative entstanden waren, wurden normative Vorgaben für physikalische Faktoren und Gefahrstoffe etwa ab 1966 in staatliche Standards überführt. In Verantwortung des Gesundheitswesens wurden dann seit Mitte der 1970er Jahre in rund 130 Standards arbeitshygienische Grenzwerte und Normen mit den dazugehörigen Nachweis- und Bewertungsverfahren festgelegt. Der Ansatz, auf Selbstständigkeit zu beharren, wie er sich bereits bei der Vorbereitung zum Arbeitsgesetzbuch gezeigt hatte sowie auch bei speziellen Verordnungen neben der Arbeitsschutzverordnung praktiziert wurde, ist vom Ministerium für Gesundheitswesen auch in der Standardisierung konsequent verfolgt worden.
In den Standards der Arbeitshygiene gab es durchaus auch Festlegungen zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen. So waren beispielsweise ergonomische Anforderungen an Steh- und Sitzarbeitsplätzen im Klassifizierungssystem der Arbeitshygiene; Anforderungen generell zu Arbeitsstätten einschl. Arbeitsplätzen waren aber im Klassifizierungssystem des Arbeitsschutzes geregelt. So gab es letztlich zwei Standardisierungssysteme mit jeweils eigenen Ordnungssystemen.
Einen Überblick über das entstandene Vorschriftensystem im Arbeitsschutz gibt Abbildung 4.
Die Entwicklung des Einsatzes von Sicherheitsinspektoren
Das AGB von 1977 und die zugehörige ASVO von 1977 enthielten die grundlegenden Forderungen zum Einsatz und zur Tätigkeit der Sicherheitsinspektoren. Eine Spezifizierung und weitere Ausgestaltung enthielt eine 2. Durchführungsbestimmung (DB) zur ASVO v. 6.9.1978 (GBl. der DDR I 1978 S. 373). Die Konkretisierung bezog sich auf den Einsatz dieser Fachexperten: Es waren in allen Betrieben, in den zentralen Staatsorganen, bei den örtlichen Räten, in den wirtschaftsleitenden und ihnen gleichgestellten Organen und auch in den Produktionsgenossenschaften Sicherheitsinspektoren einzusetzen. Vorgaben zu Einsatzzeiten gab es zu keiner Zeit. Die direkte Anleitung und zentrale Einflussnahme übergeordneter Organe war durch die Hierarchie organisiert, der Zentralismus gesichert. Ansonsten wurden in der Durchführungsbestimmung die bis zu dieser Zeit entstandenen Anforderungen in unterschiedlichen Dokumenten zusammengeführt und blieben inhaltlich erhalten.
Die inhaltliche Grundaufgabe war, dass der Sicherheitsinspektor „als Beauftragter des Betriebsleiters diesen bei der Wahrnehmung seiner Verantwortung zur Durchsetzung der in Rechtsvorschriften und betrieblichen Regelungen getroffenen Festlegungen zum Gesundheits- und Arbeitsschutz umfassend zu beraten, sachkundig zu unterstützen und die leitenden Mitarbeiter auf diesem Gebiet anzuleiten und zu kontrollieren.“ Die Bundesrepublik hatte nach zähem Ringen das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) zu dieser Zeit beschlossen, das den Einsatz von Sicherheitsfachkräften festlegte, wenn auch längst nicht in allen Betrieben, sondern in bestimmten Grenzen (präzisiert durch Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften). Bereits seit 1950 gab es in der DDR Sicherheitsinspektoren. Nunmehr lehnt sich die 2. DB zur ASVO in einer Reihe von Formulierungen insbesondere zu den Aufgaben und die geforderte Qualifikation dieser Experten offensichtlich an die westdeutsche Gesetzgebung an, ging aber auch eigene Wege.
Jetzt wurde es in der DDR möglich, dass unter bestimmten Voraussetzungen anstelle einer abgeschlossenen Hoch- und Fachschulausbildung „entsprechend der betrieblichen Bedingungen“ eine Meisterqualifikation und in Betrieben mit geringfügigen Gesundheitsgefährdungen eine Facharbeiterqualifikation als ausreichend anerkannt wurde. Dies war bis dahin nicht möglich. Die grundlegende Forderung nach Hoch- und Fachschulabschluss hatte sich als nicht praktikabel erwiesen.
Deutlich wurde die Kontrollfunktion eines Sicherheitsinspektors betont, und zwar nicht allgemein bezogen auf die Arbeitsbedingungen, sondern speziell auch als Kontrolle der leitenden Mitarbeiter und der Wahrnehmung von deren Verantwortung.
Zum Ausbau des Betriebsgesundheitswesens
Ein zentraler gemeinsamer Beschluss des Politbüros des ZK der SED, des Ministerrates der DDR und des Bundesvorstandes des FDGB „Verbesserung der medizinischen Betreuung der Bevölkerung“ vom 25.9.1973 wird als herausragendes Gesetzeswerk der 1970er Jahre gewertet. „Nie wieder wird in den nachfolgenden Jahren ein derart umfassendes gesundheitspolitisches Programm vorgelegt.“ Dieser Beschluss kam offensichtlich auch unter dem Eindruck der zu dieser Zeit wieder angestiegenen Republikflucht und der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der medizinischen Versorgung zustande. Das Grundanliegen war nicht das Betriebsgesundheitswesen. Der betriebliche Gesundheitsschutz wurde aber hier eingeordnet in die Gesundheitspolitik für eine stärkere hausärztliche Versorgung. Es heißt im Beschluss: „Der Gesundheitsschutz der Werktätigen in den Betrieben ist durch den qualitativen Ausbau des Betriebsgesundheitswesens zu erweitern, um insbesondere für Produktionsarbeiter eine umfassende ärztliche Betreuung zu gewährleisten.“ Gemeint ist damit eine stärkere Gewichtung der Tätigkeit der Betriebsärzte für die allgemeine ärztliche Betreuung der Beschäftigten. In der DDR der 1970er/1980er Jahre ging man mit kleineren Verletzungen, Infektionen oder chronischen Erkrankungen nicht zum Hausarzt, sondern in die Poliklinik des Betriebes, wenn sie vorhanden war.
Seit Mitte der 1970er Jahre wurden etwa zwei Drittel aller Beschäftigten von betrieblichen Gesundheitseinrichtungen (Betriebspolikliniken, ‑ambulatorien, Arzt- bzw. Schwesternstellen) unmittelbar betreut. Für kleine Betriebe übernahmen ambulante Einrichtungen des territorialen Gesundheitswesens die betriebsärztlichen Aufgaben. Rechnet man diese hinzu, so erreichte der betrieblich lokalisierte Gesundheitsdienst etwa 75 Prozent der Beschäftigten. Umgekehrt bauten Großbetriebe die Kapazität ihrer Gesundheitseinrichtungen häufig so weit aus, dass sie neben den Betriebsangehörigen und ihren Familienmitgliedern auch Teile der Wohnbevölkerung mitbetreuen konnten, ja mussten. Als zentrale Orte der Vermittlung von Gesundheitsleistungen gewannen die Betriebe somit zusätzliche Bedeutung für die Lebenslage großer Teile der Bevölkerung.
1978 wurden Aufgabenstellung und Arbeitsweise der Betriebsärzte rechtlich weiterentwickelt. Erlassen wurden die Verordnung über das Betriebsgesundheitswesen und die Arbeitshygieneinspektion sowie die Erste DB hierzu. Diese Verordnung stand neben der Arbeitsschutzverordnung.
Es wurden fünf Kernpunkte betriebsärztlicher Tätigkeit festgeschrieben:
- Medizinische Betreuung, zu der neben der Ersten Hilfe insbesondere auch allgemeine Sprechstundentätigkeit der Ärzte gehörte
- Arbeitsmedizinische Betreuung mit den Schwerpunkten der erforderlichen Tauglichkeits- und Überwachungsuntersuchungen, der Einschätzung des Gesundheitszustandes der Beschäftigten, aber auch die Unterstützung der Berufsberatung Jugendlicher, die Überwachung des Einsatzes von Beschäftigten im Rahmen der Rehabilitation und von Schonarbeit, die Unterstützung des Betriebsleiters bei der Auswertung und Senkung des Krankenstandes, die Mitwirkung bei der Vergabe von Kuren; der Betriebsarzt wirkte mit der Betriebsrehabilitationskommission zusammen
- Arbeitshygienische Beratung, hier insbesondere die Mitwirkung bei der arbeitshygienischen Analyse der Arbeitsplätze, die Kontrolle der hygienischen und physiologischen Gestaltung von Arbeitsmitteln, Arbeitsverfahren und Arbeitsstätten, die Kontrolle der Durchsetzung der Rechtsvorschriften für den speziellen Schutz bestimmter Gruppen von Beschäftigten, wie Jugendliche, Frauen usw.
- Kontrolle hygienischer Normen, wie Einhaltung der Hygienebestimmungen im Betrieb insbesondere in gesundheitstechnischen und sanitären Anlagen, Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung, Kontrolle der Speisenversorgung in allen Schichten, Vorbereitung und Durchführung von Schutzimpfungen
- Gesundheitserziehung der Beschäftigten einschl. Beratung des Betriebsleiters hierzu.
Charakteristisch war die Einheit von betriebsärztlicher Beratung im Sinne der Prävention mit kurativer Behandlung und Nachsorge. Und der Betriebsarzt hatte auch Einstellungsuntersuchungen durchzuführen. Neben der Unterstützung der Betriebsleiter waren insbesondere – im Unterschied zur Praxis in der Bundesrepublik – auch staatliche Überwachungsaufgaben wahrzunehmen.
Der Betriebsarzt wurde unmittelbar durch die staatlichen Inspektionsorgane im Gesundheitswesen für betriebliche Kontrollaufgaben mit entsprechend erforderlicher Berichtserstellung eingesetzt. Dies störte ein notwendiges Vertrauensverhältnis zwischen Betrieb und Betriebsarzt.
Es gab durchaus zentral vorgegebene Arbeitsschwerpunkte, die eine differenzierte betriebliche Arbeitsweise der Betriebsärzte erschweren konnten. Die umfangreichen Tauglichkeits- und Überwachungsuntersuchungen banden einen sehr hohen Teil der betriebsärztlichen Betreuungskapazität, was insoweit auch der primären Prävention verloren ging.
Arbeitsmedizinische Tauglichkeits- und Überwachungsuntersuchungen stellten das Kernstück der arbeitsmedizinischen Vorsorge im sozialistischen Betrieb dar, wie es der stellvertretende Direktor des Zentralinstituts für Arbeitsmedizin 1976 ausdrückte. Ein wichtiges Ergebnis der arbeitsmedizinischen Untersuchung bestand in der Beurteilung dessen, ob der Beschäftigte für die von ihm ausgeübte oder künftig auszuübende Tätigkeit tauglich war oder nicht.
Zahlreiche Beschäftigte waren innerhalb eines Jahres mehrmals und oft noch durch verschiedene Ärzte untersucht worden. Darüber hinaus wiederum erschien einmal jährlich eine Vielzahl anderer Beschäftigter zur Untersuchung, ohne dass für diese kurzen zeitlichen Abstände ausreichende Gründe seitens ihrer Arbeitsbelastungen vorlagen. Die Belastungs- und Anforderungssituation jedes Arbeitsplatzes ist in einem speziellen Dokumentationsbeleg „Arbeitshygienische Arbeitsplatzcharakteristik“ erfasst worden.
Diese einheitliche Dokumentation wurde zentral nach unterschiedlichen Strukturmerkmalen epidemiologisch aufgearbeitet und diente so der generellen Aufklärung von Zusammenhängen zwischen Arbeit und Erkrankung, der Verbesserung der Abschätzung von Gesundheitsrisiken, der differenzierten Beurteilung der Tauglichkeit, auch der Ableitung von Prioritäten für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Hans-Günter Häublein hatte die Nutzung solcher Analysen für „Professiogramme“ entwickelt. Professiogramme stellten Gefährdungs- und Belastungssituationen für Berufe und Tätigkeiten zusammen und dienten als wesentliches Hilfsmittel für die gesundheitliche Betreuung der Beschäftigten.
Daneben gab es die „Arbeitshygienische Komplexanalyse“ zur Analyse und Beurteilung der Arbeitsplätze. Sie hatte ein abgestuftes System „von grob nach fein“. Auf orientierende Analysen aufsetzend wurden bei Bedarf messtechnisch aufwendigere spezielle Analysen mit Unterstützung von gesondertem Fachpersonal gefordert. Ergebnisse der Arbeitshygienischen Komplexanalyse mussten von den Betrieben an die Arbeitshygieneinspektion (AHI) gemeldet werden. Es bestand insofern seit 1982 zugleich eine offizielle staatliche Berichterstattung, die Betriebe verpflichtete, ihre Daten weiterzugeben. Dieser „Arbeitshygienische Bericht“ konnte sowohl als betriebliches Instrument zur Setzung von Schwerpunkten genutzt werden, schuf aber zugleich durch regionale sowie zentrale statistische Aufbereitung eine Gesamtübersicht für die Bezirke und die DDR (vgl. Abb. 6). Nicht erfasst wurden psychische Belastungen, weil dies politisch nicht gewollt war. Angaben hierzu sind in den Übersichten nicht enthalten.
Die besondere Bedeutung liegt in der Verknüpfung von Befunddokumentationen einerseits und der vorausschauenden Belastungsermittlung an den Arbeitsplätzen anderseits. 1989 waren für ca. 88 Prozent aller Berufstätigen die arbeitshygienischen Bedingungen dokumentiert und so einer epidemiologischen Auswertung zugänglich. Solche Arbeitsplatzcharakteristiken sollten den Betrieben helfen, „die arbeitshygienische Situation einzuschätzen und zu bewerten.“ Notwendig war eine enge Zusammenarbeit zwischen den Betriebsärzten mit den AHI, wenn sie diese Aufgabe erfüllen wollten, weil nur diese über Spezialisten (z. B. Chemiker oder Akustiker) und Spezialgeräte verfügten, um gemeinsam mit betrieblichen Abteilungen die notwendigen Arbeitsplatzanalysen durchzuführen.
Es war betriebsärztliche Aufgabe, an der ärztlichen Versorgung Arbeitsunfähiger mitzuwirken. So sollte auf die Senkung des Krankenstandes Einfluss genommen werden. Anleitungen hierfür enthielten die methodischen Hinweise für die Auswertung des Krankenstandes von 1974 und 1979. Die Einheit kurativer und arbeitshygienisch-arbeitsmedizinischer Aufgabenstellungen wurde vielfach als bewährt beurteilt. Besondere „Fürsorge“ wurde den wegen Krankheit arbeitsbefreiten Beschäftigten in der DDR zuteil. Dem Krankenstand musste nach Untersuchungen einer Dissertation von Zimmermann aus dem Jahre 2000 nach sozialistischer Ansicht als gesamtgesellschaftliches Phänomen „massiv“ zu Leibe gerückt werden. Dazu diente ein Sonderrapportsystem von den Betrieben zu den staatlichen Stellen des Gesundheitswesens. Auf der Grundlage gezielter Informationen mussten die im Berichtszeitraum aufgetretenen Arbeitsausfallzeiten infolge Krankheit von Betriebsangehörigen sowie bestimmte Auffälligkeiten im Krankenstandsgeschehen analysiert und entsprechende Maßnahmen festgelegt werden. Überstieg die Zahl der kranken Beschäftigten eine „Reizschwelle“, formierte sich im MfG „unter dem Aspekt der Senkung des Krankenstandes“ eine „Inspektionsgruppe“ aus bewährten „medizinischen Kadern“, die kranke Arbeiter aufzuspüren und durch Gesundschreiben ganz schnell zu kurieren hatten, wie Zimmermann in seinen Untersuchungen feststellt.
Die betriebsärztliche Betreuung entwickelte sich insbesondere seit 1978 stark zu einer kooperativen Betreuung. Verschiedene ärztliche Fachrichtungen wirkten zusammen. Obligatorische Leistungsbereiche waren bei den Betriebspolikliniken Abteilungen für Allgemeinmedizin/Innere Medizin, arbeitsmedizinische Leistungs- und Funktionsdiagnostik, Arbeitshygiene/Arbeitsphysiologie/Arbeitspsychologie, Unfallchirurgie, Labor- und Röntgendiagnostik, Physiotherapie/Arbeitstherapie sowie allgemeine Stomatologie. Als Betriebsärzte waren Fachärzte für Allgemeinmedizin, Internisten, Dermatologen, Orthopäden, Augenärzte, Gynäkologen, Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und Fachärzte für Arbeitshygiene tätig. Also gab es beispielsweise Augenärzte als Betriebsärzte, obwohl sie formal diese Qualifikation im Sinne eines Betriebsarztes nicht hatten.
Zu einer wesentlichen Säule des BGW entwickelten sich verstärkt wirtschaftszweigspezifische Arbeitshygienische Zentren (AHZ) und Beratungsstellen (AHB). Diese Form geht zurück bis in die 1950er Jahre. 1967 waren dann in allen Bezirken der DDR auf Initiative von Hans-Günter Häublein arbeitshygienische Beratungsstellen des Bauwesens gegründet worden. Diese Entwicklung wurde als Erfolg versprechend für die professionelle Beratung von Unternehmen bewertet. 1980 erging eine gesonderte Vorschrift, nämlich die Dritte Durchführungsbestimmung zur Verordnung über das Betriebsgesundheitswesen und die Arbeitshygieneinspektion – Arbeitshygienische Zentren und Arbeitshygienische Beratungsstellen. Danach profilierten sich in vielen Branchen solche Zentren bzw. Beratungsstellen.
Kooperative Arbeitsweise der Ärzte entstand zunehmend mit Ingenieuren, die direkt in Einrichtungen des BGW angestellt wurden. Es war erklärtes Ziel, mit diesem technisch qualifizierten Personal interdisziplinär auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen direkt Einfluss zu nehmen. Es kamen Arbeitshygieneingenieure zum Einsatz. Gerade die arbeitshygienische Begutachtung von Projekten wirkte sich offenbar präventiv auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen aus. Die Vernetzung von Ärzten und Technikern förderte die Integration der arbeitsmedizinischen Kompetenzen in eine zunehmend interdisziplinär ausgerichtete Umsetzung des Arbeitsschutzes.
Die Ausbildung von Ingenieuren für Arbeitshygiene begann 1974 an der Ingenieurschule für Pharmazie, Abteilung Hygiene/Arbeitshygiene in Leipzig. Diese Ausbildung wurde als postgraduales Studium durchgeführt. Der Ingenieur für Arbeitshygiene sollte als Partner und unter Führung des Facharztes für Arbeitshygiene wirksam werden. Sein Aufgabengebiet war die Umsetzung arbeitshygienischer Erkenntnisse in die Praxis. 1981 war ein postgraduales Studium zum „Fachwissenschaftler Medizin/Fachrichtung Arbeitshygiene“ für naturwissenschaftliche und technische Hochschulabsolventen sowie Diplompsychologen im Gesundheitswesen eingeführt worden, um eine interdisziplinäre Kooperation und anerkannte Gleichwertigkeit der Fachkompetenz der verschiedenen im medizinischen, technischen und sozialen Gesundheitsschutz tätigen Akademiker zu sichern.
Eine besondere Stärke des BGW war die Möglichkeit, Defizite in der Gewährleistung der Arbeitssicherheit durch technische Maßnahmen der Gestaltung von Arbeitsmitteln, Arbeitsstätten und Arbeitsverfahren im gewissen Umfang aufzufangen. Ärztliche Vorsorgeuntersuchungen und das hiermit in Verbindung stehende System der Dispensaire-Betreuung wurden zu einem der Instrumente des vorsorgenden Arbeitsschutzes, um fehlende technische Lösungen auszugleichen. Der allgemeine Krankenstand (1981 betrug er 6,08, 1989 6,03) konnte trotzdem in den 1980er Jahren nicht entscheidend gesenkt werden. Und die kaum sinkenden Exponiertendaten belegen, dass ein spürbarer Einfluss auf die präventive Gestaltung der Arbeitsbedingungen ausblieb – sicher nicht verursacht durch das Betriebsgesundheitswesen, aber auch nicht nachhaltig positiv verändert (vgl. Abb. 7). Über Jahre hinweg blieb rund jeder vierte Beschäftigte gegenüber Gesundheitsgefährdungen exponiert. Bezogen nur auf das Produktionspersonal sind 1989 rund 36 % exponiert, damit mehr als ein Drittel des gesamten Produktionspersonals (ohne psychische Belastungen).
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass der sehr hohe personelle Einsatz im betrieblichen Gesundheitswesen für die Betriebe kostenlos war. Dieser doch sehr große sozialpolitische Aufwand war mit ein Baustein für die zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR gerade in den 1980er Jahren, weil sie sich auf sozialpolitischem Gebiet keine Einschränkungen erlauben wollte und konnte. Das Konzept der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ forderte insbesondere für den Wohnungsbau und für die Subvention von Grundnahrungsmitteln, Mieten und Energie immer mehr Mittel, die aus der Wirtschaft abgezogen werden mussten, um sie im Staatshaushalt für diese Subventionen zu konzentrieren. Wettrüsten, Ölkrise u. a. dramatisierten die wirtschaftliche Situation. Der hohe Aufwand im Staatshaushalt für das betriebliche Gesundheitswesen war möglicherweise mit ein Puzzle-Teil für den wirtschaftlichen Niedergang der DDR.
Der zentralistische Aufbau des DDR-Gesundheitswesens trug die Absicht zur Reglementierung der Zuständigkeit jeder Einrichtung für örtliche bzw. regionale Bereiche in sich. Jede medizinische Einrichtung und jeder Arzt sollten einen fest umrissenen Versorgungsbereich betreuen. Damit ist der Nutzen zum Erhalt des Machtmonopols durch eine ständige Steuerung der Behandlung und durch totale Überwachung und Führung jedes Patienten offensichtlich. Freie Arztwahl war damit nicht vereinbar. Politisch-ideologisch sollten die DDR-Bürger den Arzt ihres Vertrauens frei wählen können. Die freie Wahl des Arztes war in Wirklichkeit aber dennoch sehr stark eingeschränkt. Im Alltag konnten sich die Beschäftigten dem direkten Zugriff der medizinischen Einrichtungen ihres Betriebes nicht entziehen. Und dies war nicht nur als Vorteil für den Einzelnen zu sehen, sondern ermöglichte eine gläserne Betrachtung für den Betrieb und andere Einrichtungen. Die Partei besaß damit die uneingeschränkte Kontrolle über die Arbeitsbefreiung sowie den Gesundheitszustand der Beschäftigten und deren Angehörige. Die Arbeitshygieneinspektionen waren verantwortlich für die Anleitung und Kontrolle der Einrichtungen des BGW. Gerade dadurch war eine zentralistische Steuerung des Betriebsgesundheitswesens organisiert. Arbeitsschwerpunkte der Betriebsärzte wurden vorgegeben.
Der Stellenwert des Arbeitsschutzes nimmt in der Ära Honecker ab
Die mit Erich Honecker seit seiner Machtübernahme eingeläutete sog. Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik hatte den Arbeitsschutz zunehmend weniger thematisiert. Hinzu kam, dass gerade dann in den 1980er Jahren die sozialpolitischen Ambitionen in Widerspruch mit den ökonomischen Möglichkeiten der DDR gerieten. Erwartungsdruck der Bevölkerung einerseits und verfügbare wirtschaftliche Ressourcen andererseits führten sehr schnell in den 1980er Jahren dazu, dass die offizielle Politik mit ihren Verlautbarungen unglaubwürdig wurde, konkrete Verbesserungen nicht wirklich eintraten und dass auch der Arbeitsschutz zu einem Randproblem verkam. Der finanzielle Spielraum für Arbeitsschutz war unter den Bedingungen einer zentral gesteuerten Wirtschaft nicht mehr da. Verbliebene Ressourcen des betrieblichen Gesundheitsschutzes wurden zunehmend zur Sicherstellung der allgemeinen gesundheitlichen Versorgung genutzt und gingen so dem Anliegen eines betrieblichen Arbeitsschutzes verloren. Die DDR-Führung vermochte es nicht, auch nur die einfache Reproduktion der materiellen Bedingungen sicherzustellen. Marode Technik, Desorganisation, Versagen der zentralen Planung u. a. führten zu einer Situation, die einem wirksamen Arbeitsschutz kaum Spielraum gab. Oft wurden Vorschriften des Arbeitsschutzes durch Ausnahmegenehmigungen ausgehebelt.
Die Erwartungen der Beschäftigten an Verbesserungen der Arbeitsbedingungen waren hoch. Untersuchungen zur sozialen Wirksamkeit von Automatisierungslösungen belegen, dass rund 68 Prozent der Befragten in fünf großen Kombinaten der metallverarbeitenden Industrie eine Einschränkung gesundheitsgefährdender Arbeit erwarteten. Dies ist letztlich Ausdruck erlebter schlechter Arbeitsbedingungen. Der in der DDR wachsende Vertrauensverlust der Menschen gegenüber den Machthabern in den 1980er Jahren liegt auch in dieser erkennbar werdenden Verschlechterung der Arbeitsbedingungen begründet.
Analysen aus dem Herbst 1989 und Frühjahr 1990 über die Motive der von Ost- nach Westdeutschland gezogenen Menschen belegen, dass ein wesentliches Motivbündel in den mangelhaften Arbeitsbedingungen der DDR-Betriebe lag. Von 2.582 Befragten zu ihren Flucht- bzw. Übersiedlungsmotiven gaben Anfang 1990 72 Prozent schlechte Arbeitsbedingungen an.
Es gab in den Betrieben eindeutig eine Dominanz der Planerfüllung, die den Arbeitsschutz vernachlässigte. So nahmen die Führungskräfte den Arbeitsschutz im Widerspruch zu den Anforderungen an Planerfüllung und Gewinnerwirtschaftung war. Indikator hierfür ist exemplarisch die Explosion im Ölwerk Riesa am 5.2.1979, bei der zehn Menschen getötet und 39 zum Teil schwer und weitere elf leicht verletzt wurden. Als Resümee aus der Summe aller Rechtspflichtverletzungen dieses Ereignisses steht, dass den verurteilten Führungskräften „offenbar die immer wieder geforderte Erfüllung und ´gezielte Übererfüllung´ des Plans wichtiger [war] als die penible Einhaltung von […] Arbeits‑, Gesundheits- und Brandschutzvorschriften.“ Es gibt eine Reihe weiterer Beispiele (Kernkraftwerke Lubmin und Greifswald, Erdgasförderung in der Altmark, Chemiekombinat Buna, Sprengstoffwerk Schönebeck, …). Unglücksfälle entstehen in allen Staaten aus unterschiedlichsten Gründen. Sie ereigneten sich auch in Westdeutschland. Das Erschreckende an den Fällen in der DDR ist, dass einfachste Arbeitsschutzmaßnahmen nicht gewährleistet waren. Die SED ging mit großen Worten zur Demonstration der Überlegenheit des Sozialismus um. Die Realität belegt dies anders. Die vernachlässigte Arbeitssicherheit ist eine der abscheulichen Erscheinungen der Ära Honecker.
Besonders dramatisch stellte sich die Lage in der Chemie dar, speziell in Bitterfeld. Mehrfach befasste sich der DDR-Ministerrat mit der Problematik (BArch, C 20/I/4–5768, 1986; BArch, DC 20/I/4 – 5876, 1986). Gebildet wurde eine Expertengruppe „Zur Eingrenzung der Gefahren und zum Schutz der Werktätigen“. So musste über ein Krisenmanagement akute Gefahr für Leib und Leben abgeschwächt werden. In Nacht- und Nebelaktionen wurden Ende 1985 bis Anfang 1986 40 Einzelmaßnahmen mit einem Umfang von 8,7 Mio. Mark realisiert, um Schlimmstes zu verhindern. Es gab Festlegungen zur verstärkten gesundheitlichen Überwachung der Beschäftigten. Zusätzliche Kuren sollten die Emotionen der Menschen beschwichtigen.
Bitterfeld war seit Jahren in der DDR berüchtigt. Schon 1970 gab es eine Explosion mit zu beklagenden Toten. Schließlich kommt es zu einer erneuten katastrophalen Explosion. Der SPIEGEL berichtet: „Jahrzehntelang, so das Resümee der bislang unter Verschluß gehaltenen Papiere, haben die Buna-Bosse mit dem Leben und der Gesundheit ihrer Arbeiter Russisches Roulett gespielt. Obwohl die Karbidanlagen total überaltert und verschlissen waren, wurde weiterproduziert. Warnungen der staatlichen Aufsicht vor Explosionsgefahren und selbst Politbüro-Beschlüsse zur Renovierung der lebensgefährlichen Karbidöfen wurden ignoriert. Die Devise hieß: Planerfüllung um jeden Preis, Katastrophe inklusive.“ Und weiter heißt es: „Zu wichtig war die Aufrechterhaltung der Karbidproduktion. Rund 15.000 Arbeiter waren bei Buna, dem größten Chemiekombinat der DDR, allein in diesem Betriebsbereich beschäftigt. Das Karbid, Ausgangsstoff für die Produktion von Plastik, Lacken, Farben und Pharmaka, galt in der vom Weltmarkt abgeschnittenen DDR als unersetzbar.“ Und tatsächlich kam es im Februar 1990 zu einem folgenschweren Unglück. Die Explosion eines Karbidofens im Schkopauer Buna-Werk war das schwerste Unglück in der Geschichte des DDR-Chemiekombinates: Fünf Arbeiter starben, 23 wurden schwer verletzt.
Solche unakzeptablen Bedingungen blieben bis zum Ende der DDR eine typische Erscheinung. Die Politik der Produktivitätssteigerung ohne wesentliche Investitionen erforderte Improvisation im Arbeitsschutz. Besonders stark verschlissen war eine Vielzahl von Produktionsaggregaten (Energieerzeugungsanlagen, Maschinen, Geräte, Armaturen, Transportmittel). Im Durchschnitt trugen 1989 nach amtlichen Angaben in der Industrie der DDR über 54 Prozent und in der Bauwirtschaft rund 69 Prozent der maschinellen Ausrüstungen das Etikett „schrottreif“. Noch 1990 arbeiteten in nicht wenigen Betrieben Maschinen aus den 1940er Jahren und früher. Etwa 15 Prozent der in der Industrie tätigen Produktionsarbeiter verbrachten ihre Zeit damit, alte und defekte Maschinen zu reparieren. Daher bestimmten in vielen Fällen neben teilweiser neuer Technik bereits voll abgeschriebene und zudem stark reparaturanfällige Anlagen als schwächste Glieder der produktionstechnischen Kette innerhalb der Betriebe das Gesamtniveau der Automatisierung und Rationalisierung. Die daraus resultierenden Maschinenausfälle und „Havarien“ legten nicht selten ganze Produktionsketten lahm. Nach dem Arbeitswissenschaftler Manfred Schweres kann von einer „Ausquetschstrategie“ gesprochen werden, dem Fahren von Anlagen bis zum Zusammenbruch. Die Verschleißquote des Ausrüstungsbestandes hatte sich stetig verschlechtert (BArch, DC 20, 5311, 1988).
Im Zusammenhang mit der Diskussion zur Neufassung des Arbeitsgesetzbuches Mitte der 1970er Jahre sah sich die hierzu bestehende Kommission mit Forderungen konfrontiert, die Gewährleistung der Arbeitssicherheit in den Unternehmen verbindlicher auszugestalten. Als Standpunkt formulierte die Kommission, dass dem nicht gefolgt werden kann, weil dies „nicht den Bedingungen der Praxis entspricht.“ (BArch, DQ 3/42, 1977). Letztlich wurde in der DDR um die grundlegende wirtschaftliche Orientierung Soziales drapiert. Arbeitsschutz als Bestandteil der Sozialpolitik war nicht kompensatorisch, sondern produktionsorientiert. Trotz klarer Forderungen im Recht und Orientierungen auf primär technische Gestaltung der Arbeitssicherheit seit Bestehen der DDR musste in der betrieblichen Wirklichkeit in erster Linie über Unterweisung u. Ä. auf die Vermeidung von Gesundheitsschäden Einfluss genommen werden.
Im Zusammenhang mit der Sozialpolitik wurde also der Arbeitsschutz nicht besonders befördert. Es blieben die Verstöße gegen das geltende Recht, weil Investitionsmittel fehlten und der Verschleiß der Technik immer größer wurde. Auch die starke Focussierung auf Planerfüllung rückte den Arbeitsschutz in den Hintergrund.
Eine Verteilung von Mitteln erfolgte nicht nach Sacherfordernissen des Arbeitsschutzes. Dominant waren oftmals auch ideologische Erwägungen. Es wurden Exportbetriebe vorrangig bedacht oder Unternehmen, bei denen es darum ging, das internationale Renommee, das sich die DDR auf manchen Gebieten geschaffen hatte, zu erhalten und weiterzuentwickeln. Die Politik der Unterstützung anderer Staaten, die den Aufbau des Sozialismus verfolgten, wirkte im Arbeitsschutz störend (z. B. Einfuhr von Arbeitsschutzkleidung aus Vietnam immer mit erheblichen Terminverzögerungen und in falschen Größen und Sortimenten).
Wie bereits unter Ulbricht mussten auch in der Ära Honecker Strafgefangene unter ungesetzlichen Arbeitsbedingungen tätig werden (vgl. hierzu den Beitrag in Sicherheitsingenieur Heft 10/2007). Aus den 1980er Jahren wird von mehreren Zeitzeugen über eine eklatante Verletzung von Arbeitsschutzvorschriften insbesondere beim Arbeitseinsatz von Strafgefangenen berichtet.
Reaktive Arbeitsschutzpolitik tritt an die Stelle gestaltender Politik
Die Gewerkschaften stellten bei ihren Kontrollen wiederholt ein Zurückbleiben der Wirklichkeit hinter den rechtlichen Forderungen zum Arbeitsschutz fest. Ein ständiges Anwachsen der Luftschadstoffe führten sie auf unzureichende Maßnahmen in den Betrieben zurück (SAPMO-BArch, DY 34/25255, 1974). Zugleich konstatierten sie, dass das Produktionsaufkommen zur Absaugung usw. hinter dem Bedarf zurückblieb und die Betriebe keine Lösungen einsetzen konnten. 1975 blieb das Aufkommen zu 25 Prozent unter dem Bedarf (SAPMO-BArch, DY 34/25255, 1974). Ungenügende Fertigungskapazitäten bestanden auch für schallschutztechnische Mittel (SAPMO-BArch, DY 34/25255, 1974). Materielle Grundlagen fehlten zur Versorgung mit Sicherheitsventilen, Be- und Entlüftungsanlagen und vielem mehr. Es fehlten technische Mittel zur Schadstoffbekämpfung sowie zur Lärm- und Schwingungsabwehr. Engpässe bestanden bei Messgeräten für Luftschadstoffe.
Arbeitsschutzpolitik deformierte zu reaktiver, zentral organisierter Einflussnahme auf Engpässe bei der Versorgung mit Arbeitsschutzmitteln und Arbeitsschutzkleidung als Massenerscheinung in den 1980er Jahren. Arbeitsschutzpolitik wurde zur Verteilungspolitik. Bereits 1971 erkannte der FDGB-Bundesvorstand: „Gegenwärtig ist die Versorgung mit Arbeitsschutztechnik, Arbeitsschutzkleidung und –mitteln unzureichend. […] In allen Wirtschaftszweigen wird der Bedarf unvollständig gedeckt.“ (SAPMO-BArch, DY 34/24927, 1971). Die Dominanz wirtschaftlicher Einflüsse und zentraler Verwaltung von Mängeln zeigte sich im Arbeitsschutz z. B. in jährlich mehreren Beschlüssen des DDR-Ministerrates zur Sicherung der Versorgung mit persönlichen Schutzausrüstungen. Das Kabinett der Regierung der DDR, manchmal sogar das Präsidium des DDR-Ministerrates befasste sich mehrmals im Quartal mit der Versorgung mit Atemschutz oder anderen Arbeitsschutzmitteln! Was für ein Armutszeugnis! Aktionismus ist erkennbar. Als Beweis gilt die Vielzahl der Sitzungen des DDR-Ministerrats zur Versorgungslage auf dem Gebiet persönlicher Schutzausrüstungen in den Archiven. Die Akten des Bundesarchivs belegen: Zum Teil mehrmals jährlich musste über eine zentrale Einflussnahme auf höchste Ebene die Versorgung mit persönlicher Schutzausrüstung einigermaßen gesichert werden.
Die Versorgung der Beschäftigten auf diesem Gebiet der Arbeitsbedingungen schien politisch wichtig. So muss dieses ständige Befassen mit den Engpässen als Versuch gesehen werden, die Stimmung in der Bevölkerung zu beherrschen, denn die Beschäftigten erleben persönliche Schutzausrüstungen als praktizierten Arbeitsschutz. Arbeitsschutzanzüge wurden aus Vietnam importiert, weil die DDR-Kapazitäten nicht ausreichten. Dort, wo eine bestimmte Produktion hätte in Gang gebracht werden können, wie z. B. bei der Arbeitsschutzkleidung, befand sich die DDR in einem Teufelskreis: Obwohl ja die Produktion in der Textilindustrie möglich gewesen wäre, setzte man die Kapazitäten hier ein, um Textilien herzustellen, die für den Export in den Westen und damit für die Devisenbeschaffung gedacht waren. Das sich auf sozialistischem Wege befindliche Vietnam sollte dagegen im Sinne des Klassenkampfes gefördert werden; so wurden Erzeugnisse in mangelhafter Qualität von dort importiert.
Fortschritte im Arbeitsschutz entstanden in den 1980er Jahren durch das Engagement aufgeschlossener Führungskräfte, durch unduldsame und aktive Sicherheitsfachkräfte sowie durch besonderes sicherheitsgerechtes Verhalten der Beschäftigten, aber nicht mehr durch arbeitsschutzgerechte Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Die sekundäre Prävention wurde auch über den medizinischen Arbeitsschutz mit ihrer Untersuchungsmedizin ausgebaut, um die durch fehlgesteuerte Wirtschafts- und Investitionspolitik zunehmend vernachlässigte primäre Prävention und die damit einhergehenden Einflüsse auf die Gesundheit der Beschäftigten zu kompensieren.
Die äußerst positive Entwicklung der Arbeitsunfälle (vgl. Abb. 9) steht im Gegensatz zu den vielfältigen Einschätzungen, dass eine nachhaltige Prävention durch Gestaltung der Arbeitsbedingungen in der DDR nicht möglich war. Es ist dabei in Rechnung zu stellen, dass die Sensibilisierung der Führungskräfte und auch der Beschäftigten sehr hoch war, sich um Arbeitsschutz zu kümmern. Die vielfältigen Qualifizierungsaktivitäten hatten eine solche Sensibilisierung maßgeblich befördert. Der Befähigungsnachweis zum Arbeitsschutz musste durch Führungskräfte kontinuierlich wiederholt werden. Die monatlichen Arbeitsschutzbelehrungen wurden konsequent und sehr regelmäßig durchgeführt. Dies war tatsächlich Praxis – auch wenn die inhaltliche Ausgestaltung der Belehrungen nicht immer den Anforderungen entsprach. Kontinuität und permanente Thematisierungen und Schulungen waren ausschlaggebend.
Die in der DDR 1989 erreichte sehr niedrige Unfallquote von 22,0 meldepflichtigen Unfällen pro 1.000 Vollbeschäftigten war unter diesen Bedingungen sehr beachtlich. In der Bundesrepublik beträgt die Unfallquote im Jahre 1990 54,4 pro 1.000 Vollarbeiter, damit etwa das Zweieinhalbfache der DDR, erreicht auch aktuell im vergangenen Jahr 2011 noch nicht dieses Niveau der DDR. Obwohl aus vielen anderen Themengebieten der DDR Fälschungen der Statistik bekannt sind, kann dies bislang für die Unfallzahlen nicht nachgewiesen werden. Verschiedene spezielle Untersuchungen zur Unfallstatistik der DDR kommen alle zu dem Ergebnis: Diese Statistiken scheinen nicht manipuliert.
Für rund jeden vierten Beschäftigten waren die Grenzwerte arbeitshygienischer Normen überschritten, bestand damit nachweisbar die Möglichkeit eines Gesundheitsschadens. Bezogen nur auf das Produktionspersonal waren dies sogar mehr als ein Drittel. Jeder 5. Arbeitsplatz musste als dringend umgestaltungsnotwendig eingestuft werden, weil Grenzwerte überschritten waren.
Es entstand eine zunehmende Kluft zwischen zentralen Leitideen des rechtlich gefassten und auch wissenschaftlich begründeten Arbeitsschutzes (Primat der sicheren Technik) und der praktischen Umsetzung technischer Lösungen wegen fehlender Mittel. Breit anzutreffen waren Erscheinungen völligen Veraltens sicherheitstechnischer Lösungen sowie einer Flut von Ausnahmegenehmigungen und Sonderregelungen zu Arbeitsschutzvorschriften.
Ein Zeitzeugeninterview schildert die Realität: „Es ging nicht viel umzusetzen, es wurde ein Maßnahmeplan geschrieben, und es wurde dann alles nicht realisiert, und dann wurden wieder Begründungen dafür geschrieben, dass die Maßnahmen nicht durchgesetzt werden konnten – und neue Schlussfolgerungen. Und es war ein riesiger Papiertiger und das war letztlich sehr ermüdend am Ende dieser DDR-Zeit dann.“
Ein Teil des Gehalts der Führungskräfte und von Sicherheitsinspektoren wurde in einer Reihe von Betrieben an die Senkung des Unfallgeschehens gebunden. Die Verbesserung des Arbeitsschutzes wurde Kriterium für die Gewährung von Jahresendprämien. Dies orientierte auf schnelle Wirksamkeit von Anstrengungen – und das ging letztlich nur durch Einflussnahme auf das Verhalten der Beschäftigten.
Faktisch war es so, dass die Anforderungen an das Verhalten dominierten und den Betrieben oft keine andere Möglichkeit blieb. Entstanden war die TGL 30104 „Gesundheits- und Arbeitsschutz Brandschutz; Arbeits- und brandschutzgerechtes Verhalten; Allgemeine Festlegungen“. Sie enthält Verhaltensfestlegungen, mit denen Arbeitssicherheit erreicht wird, die mit technischen Mitteln nicht oder nur unvollkommen erreichbar war.
Die zunehmende Ideologisierung des Arbeitsschutzes
Das Fachgebiet Arbeitsschutz wurde für eine Verbreitung ideologischer kommunistischer Ansätze benutzt. So wurde in die Ausbildung der Fachingenieure für Arbeitsschutz – wie sonst auch bei anderen Ausbildungsbereichen der DDR – ein hoher Stundenanteil Marxismus-Leninismus eingeordnet. Das weit verbreitete Handbuch für den Gesundheits- und Arbeitsschutz nannte als Aufgabe und Ziel, den Arbeitsschutz als „festen Bestandteil der Ausübung der politischen Macht der Arbeiterklasse“ zu verstehen. „Durch die Aus- und Weiterbildung der Werktätigen auf dem Gebiet des GAB (Gesundheits- und Arbeitsschutzes sowie Brandschutzes) sind die Werktätigen immer besser zu befähigen, diesen historischen Prozeß [der Ausübung der politischen Macht] bei stets wachsenden gesellschaftlichen Erfordernissen erfolgreich zu meistern.“
Als Grundlage der Aus- und Weiterbildung wurde an erster Stelle die „Weltanschauung der Arbeiterklasse, der Marxismus-Leninismus“ genannt. Gesundheitshelfer hatten in ihren Kursen zur Ersten Hilfe auch Schulung in Marxismus-Leninismus. Es bestand eine Anweisung über die marxistisch-leninistische Weiterbildung der Ärzte und Zahnärzte in der Weiterbildung zum Facharzt/Fachzahnarzt und der Doktoranden der medizinischen Wissenschaft von 1977. Das Abverlangen entsprechender Fakten, vielfach Glaubenssätzen in den Examina wurde zwar hingenommen, es wird aber auch von vereinzeltem Widerstand berichtet. Wollte Walter Ulbricht mit 10 Geboten sozialistischer Moral, deren Einordnung in die Verfassung und einseitiger Ausrichtung auf Pflichtwerte eine Marginalisierung der Selbstentfaltung, vertritt Erich Honecker nunmehr den Zielgedanken der allseitig entwickelten Persönlichkeit. Die Bildungsaktivitäten gehen auch im Arbeitsschutz in diese Richtung. Die Arbeitsschutzpolitik in der sozialistischen Gesellschaft wurde für die Bildung ideologisch dargestellt als „etwas qualitativ anderes, als es die bestenfalls – und mit völlig unzureichenden Mitteln – auf die Reproduktion der Arbeitskraft gerichteten Maßnahmen sind, die unter kapitalistischen Bedingungen getroffen werden. Die Ausbeutungsverhältnisse, die Profitinteressen der herrschenden Bourgeoisie errichten auch auf diesem Gebiet unübersteigbare Schranken.“
Die 1973 beschlossenen Richtlinien für die Ausbildung der Arbeitsschutzinspektoren der Gewerkschaft nannten als ersten Schwerpunkt „Studium zentraler Beschlüsse von Partei und Gewerkschaft.“ (SAPMO-BArch, DY 34/25255, 1973).
Die sog. „Militärmedizin“ wurde in den Arbeitsschutz infiltriert. Es war generell bindend, dass im Studium der Medizin das Lehrgebiet „Militärmedizin“ absolviert werden musste, um als Arzt Grundkenntnisse und Fertigkeiten „zur Behandlung Geschädigter nach Einsatz von Massenvernichtungsmitteln, bei Katastrophen und Havarien“ zu haben. Bereits mit dem Bildungsprogramm Facharzt für Arbeitshygiene vom 20.2.1979 hatte der Minister für Gesundheitswesen verfügt, dass Bestandteil der Facharztweiterbildung militärmedizinische Bildungsanforderungen sein mussten.
Systembedingt unterlagen die Angehörigen medizinischer Berufe sowohl während ihrer Schulzeit als auch während ihrer Ausbildungszeit einer ständigen politisch-ideologischen Indoktrination. Als Voraussetzung für eine qualitativ und quantitativ hohe medizinische und soziale Betreuung galt nach sozialistischem Selbstverständnis „ein politisch-ideologisches Bewußtsein auf der Grundlage der Lehren des Marxismus-Leninismus“. Diese knappe Aussage lässt schon die hohe Ideologierelevanz ärztlicher Arbeit deutlich werden. DDR-Mediziner hatten nach den Beschlüssen des IX. Parteitages der SED in erster Linie Kommunisten zu sein und waren Staatsdiener. Erst dann hatten Betriebsärzte die erforderlichen Kenntnisse zu besitzen, „um in arbeitswissenschaftlichen Kategorien denken zu können.“ In der DDR begann beispielsweise der Eid des Hippokrates mit einer Verpflichtung zur sozialistischen Gesellschaft und zum DDR-Staat als Vaterland. In der DDR wurde der „Eid des Hippokrates“ unter Bezug auf das Gesellschaftssystem mit folgenden Worten eingeleitet: „In hoher Verpflichtung gegenüber der sozialistischen Gesellschaft und ihren Bürgern, eng verbunden mit der Deutschen Demokratischen Republik, gelobe ich […].“
Die mit der vom VIII. Parteitag der SED eingeleitete Grundlinie der Politik auf Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus schloss eine Verbesserung des Arbeitsschutzes von der Sache her ein. Mit der zunehmenden Akzeptanz einer Sozialpolitik im Sozialismus, der proklamierten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik durch Erich Honecker konnte man sich auch spezifischen sozialpolitischen Aspekten des Arbeitsschutzes zuwenden. Waren bereits in den 1960er Jahren verstärkt Beziehungen zwischen dem Arbeitsschutz und der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion hergestellt worden, so wurde dieser Zusammenhang nunmehr verstärkt betont. Wichtiger Vertreter dieser Richtung war Gerhard Tietze von der Gewerkschaftshochschule in Bernau. Diese Thematisierung war eher politisch motiviert und ideologisiert. Der direkte praktische Nutzen in Verbesserungen der Arbeitsbedingungen blieb dabei aus.
Gezielte Desinformation
Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sanken real; diese durchaus positive Entwicklung wurde stark in die Öffentlichkeit getragen. Über die tatsächliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sowie der Zunahme von Gefährdungen und Belastungen wurde die Öffentlichkeit aber im Unklaren gelassen oder desinformiert. Analysen zur Entwicklung der arbeitshygienischen Bedingungen, die in den 1980er Jahren erstellt wurden, blieben alle als vertrauliche Dienstsache oder sogar Verschlusssache eingestuft. Erst nach 1989 wurden Übersichten offen gelegt.
In der DDR wurden Instrumente zur Erhebung psychischer Belastungen entwickelt. Es existieren Fragebögen, mit deren Hilfe Symptome abgefragt werden konnten, die psychische Belastungen und Beanspruchungen charakterisieren. Ihr Einsatz war aber nicht möglich. Ein 1990 entstandenes Gutachten trifft die Einschätzung, dass „manches davon nicht benutzt werden durfte – soziologische Befragungen seien verpönt gewesen; die Angst, dass Unangenehmes herauskäme, zu groß.“ Obwohl solche Instrumente vorlagen, enthielt die offiziell herausgegebene Methodik zur Arbeitshygienischen Komplexanalyse 1988 unter dem Abschnitt „Psychische Belastungen und Beanspruchungen“ lediglich den Vermerk „Methodik in Vorbereitung“.
Die Intensivierung der Produktion wurde von der SED zum entscheidenden Kettenglied proklamiert, hiermit verbunden waren reale Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen. Wissenschaftliche Publikationen belegten dies. Bereits Anfang der 1970er Jahre wurden erstmalig Übersichten zu den Arbeitsbedingungen und den vorhandenen Gefährdungen in den Betrieben veröffentlicht. Nachdem die 2. Auflage dieser Publikation im Rundfunk der Bundesrepublik referiert wurde mit dem Hinweis, politische Verlautbarungen der SED und Erkenntnisse der Wissenschaft der DDR würden Widersprüche offen legen, kam es für Autor, Verlag und Gutachter zu Parteiverfahren. Anforderungen an die Veröffentlichungen zur Situation im Arbeitsschutz wurden unter dem Aspekt des „Klassenkampfes“ erheblich verschärft. So finden sich in den Folgejahren überwiegend Erfolgsmeldungen zur Entwicklung des Arbeitsschutzes, beispielsweise zur Um- und Neugestaltung von Arbeitsplätzen mit Verbesserungen der Arbeitsbedingungen. Als markantes Beispiel für wirtschaftliche Dominanz gegenüber Arbeitsschutzerfordernissen steht die Verschleierung der Gesundheitsgefahren durch Asbest. Wissenschaftliche Erkenntnisse hatten die besonderen Risiken längst thematisiert. Als Geheime Verschlusssache wurde 1981 eine Information des Ministerrates zu den Gefahren durch Asbest eingestuft (BArch, C 20/I/4 – 4721, 1981). Zu dieser Zeit wurden durch die DDR jährlich ca. 60.000 bis 70.000 t Asbest hauptsächlich aus der UdSSR und Kanada importiert (BArch, DC 20/I/4 – 4721, 1981). Die Situation war durch viele Ausnahmegenehmigungen von arbeitshygienischen Standards gekennzeichnet, z. B. für Schwefelkohlenstoff, Quecksilber, Benzol, Ammoniak, Vinylchlorid und Asbest. Beschäftigte waren über die Gesundheitsgefahren, z. B. durch Asbest oder radioaktive Stoffe, nicht informiert worden. Obwohl schon 1969 verboten, wurde mit Hilfe von Ausnahmegenehmigungen insbesondere der gefährliche Spritzasbest weiter verwendet.
Die SED beharrte besonders in den 1980er Jahren auf einer Politik der Zurückhaltung von Informationen, Rechtfertigung und Apologetik der bestehenden Zustände. Der stellvertretende Leiter der ZK-Abteilung Agitation der SED hat aus seinen Tagebüchern nach der Wende Beispiele für verbotene Themen für die Berichterstattung in den Medien zusammengestellt. Danach durfte beispielsweise nichts über Formaldehyd („die Bürger könnten Angst vor Krebs bekommen“) und nichts über Atomkraftwerke („sonst wird ein sensibles Thema hochgeputscht“) veröffentlicht werden.
Das bestimmende Merkmal des Arbeitsschutzes in den 1980er Jahren war sein Niedergang. Anspruch und Realität klafften immer weiter auseinander. Das proklamierte Primat der Technik für die Gestaltung sicherer und gesundheitsgerechter Arbeitsbedingungen ist ersetzt worden durch eine reaktive Arbeitsschutzpolitik, die auf Belehrung und schützende Verhaltensweisen setzte.
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1 Es wird darauf verzichtet, die Vielzahl von Literaturquellen im Rahmen dieses Fachbeitrages zu kennzeichnen. Sie können entnommen werden dem breiter angelegten Fachbuch „Wienhold, L.: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Historischer Abriss zum Arbeitsschutz in der SBZ/DDR. München: GRIN-Verl. 2011“. Es steht ein download als eBook zur Verfügung:
Autor
Dr. Lutz Wienhold
E‑Mail: lwienhold@aol.com
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