Frühjahr 1945. Sowjetische Besatzungszone. Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die Wirtschaft und die Menschen der späteren DDR stehen vor großen Problemen. Kriegszerstörungen, die Demontage von Maschinen und Anlagen, hohe Besatzungskosten, verlorengegangene Absatzmärkte im Westen, aber auch der fehlende Zugang zur westdeutschen Steinkohle und zu anderen Rohstoffen machen der ostdeutschen Industrie in den ersten Nachkriegsjahren schwer zu schaffen. Zudem fehlt es an Arbeitskräften, da viele Fachkräfte in die Westzonen abwandern. Die Arbeitsmoral der Übriggebliebenen ist eher schlecht, da die meisten Ostdeutschen wenig Lust verspüren, „für die Russen zu arbeiten“. Alles zusammen führt dazu, dass die Industrieproduktion 1946/47 bei gerade einmal 20 % des Standes von 1936 dümpelt.
Beides, niedrige Produktivität und fehlende Sympathie, ließ sich nach Meinung der sowjetischen Besatzungsmacht nur verbessern, wenn es gelänge, die Bevölkerung für den Aufbau eines „neuen“ und besseren Deutschland zu begeistern. Mittel zum Zweck sollte auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sein. Deshalb ergingen schon im Jahr 1945 von der „Sowjetischen Militäradministration in Deutschland“ (SMAD) zahlreiche Befehle die alte Forderungen der Gewerkschaften aus der Vorkriegszeit aufgriffen, wie z. B. Verbesserungen im Jugend- und Mutterschutz, kürzere Arbeitszeiten und neue Urlaubsregelungen.
Andere Maßnahmen sollten die körperliche Leistungsfähigkeit und Gesundheit der „Werktätigen“ sichern. Dazu gehörte ein besserer Unfallschutz in den Betrieben ebenso wie eine gute medizinische Betreuung. Dies sollte helfen, Ausfallzeiten zu senken, um so die niedrige Produktivität zu steigern. Zugleich wurde die tägliche Arbeit in den Betrieben mit viel Propaganda als Aufbauarbeit für den Sozialismus verkauft und als gesamtgesellschaftlich wertvolle Aufgabe definiert. Vor Ort in den Betrieben war das allerdings nur schwer vermittelbar. Das verwundert kaum, denn die Arbeitsbedingungen waren in aller Regel erheblich schlechter als vor dem Krieg, was – nebenbei bemerkt – im Westen Deutschlands nicht viel anders war. Der Versuch, gleichzeitig eine höhere Produktivität und bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen, misslang gründlich. Die Zahl der Unfälle stieg Anfang der 1950er Jahre stetig weiter an. Daran änderten auch die zahlreichen erlassenen Vorschriften nichts.
Wege für eine neue Arbeitswelt…
Man dachte um. Fortan suchte man den Unfällen und ihren Ursachen mit wissenschaftlicher Forschung beizukommen. 1954 wurde dazu das „Institut für Arbeitsökonomik und Arbeitsschutzforschung“ gegründet, aus dem später das „Zentralinstitut für Arbeitsschutz“ (ZIAS) hervorging. Das ZIAS hat für den Arbeitsschutz in der DDR vor allem zwei Entwicklungen auf den Weg gebracht: Zum einen führten die Erkenntnisse des ZIAS dazu, dass man sich von der bis in die 1960er Jahre vertretenen „Unfällertheorie“ verabschiedete. Diese Theorie gehörte lange zu den Glaubensgrundsätzen des gesamtdeutschen Arbeitsschutzes und besagte, dass bestimmte Personen bei gleichen Bedingungen häufiger zu Unfällen neigen als andere, weil sie aufgrund sozialer oder charakterlicher Eigenschaften zur Unachtsamkeit, Selbstüberschätzung u. ä. neigen würden. Im Klartext: Unfälle sind nicht in den Umständen, also den Arbeitsbedingungen begründet, sondern in der Person des Unfallopfers. Die Theorie war in den 1920er Jahren entwickelt worden, wurde lange Zeit auch in Westdeutschland vertreten und gilt heute als widerlegt.
Daneben hat das ZIAS mit der Einführung der sogenannten „Schutzgüte“ einen Gedanken im Bereich der Sicherheitstechnik verwirklicht, der heute im modernen Arbeitsschutz Allgemeingut ist: Bei Werkzeugen und Geräten, die dieses Gütesiegel trugen, war die sichere Handhabung bei der Konstruktion gleich mitbedacht worden.
Auch in anderen Bereichen war der Arbeitsschutz in der DDR weiter als in Westdeutschland – zumindest auf dem Papier. So stand der wichtige (und richtige) Grundsatz „Sicherheit schaffen statt Vorsicht fordern“ auch im „Gesetzbuch der Arbeit“, mit dem sich die DDR als das „bessere Deutschland“ präsentieren wollte.
Irrungen und Wirrungen
Wirklich glücklich mit ihrem Staat und den herrschenden Lebens- und Arbeitsbedingungen waren die DDR-Bürger und ‑Bürgerinnen nicht. Denn während sich die Westdeutschen am Wirtschaftswunder, Italienurlaub, Massenmotorisierung und Fresswelle erfreuten, herrschte in der DDR der Mangel. Kaum verwunderlich stimmten viele mit den Füßen ab und „machten ´rüber“. Der Bau der Mauer 1961 beendete diese „Reiselust“ abrupt und verschaffte der SED Zeit für die Lösung der wirtschaftlichen Probleme. 1963 wurde dann das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ (NÖSPL) verkündet. Kernpunkt: Die Wirtschaft erhielt mehr Selbständigkeit. Dies sollte die Produktivität erhöhen, mehr Exporte ermöglichen und so die Devisenkasse füllen. Tatsächlich stieg nach 1963 die Produktivität der Betriebe. Kehrseite der Medaille: Die Arbeitssicherheit wurde vernachlässigt, die Zahl der Unfälle stieg in einigen Wirtschaftszweigen stark an. Die Sicherheit der Maschinen – im Gesetzbuch der Arbeit festgeschrieben – spielte oft nur noch eine untergeordnete Rolle. Auch wurden viele Maschinen aus der UdSSR importiert, die der „Schutzgüte“ der DDR in keiner Weise entsprachen.
1971 wurde Erich Honecker Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED. Unter seiner Führung wurde die nur auf Export ausgerichtete Wirtschaft wieder umgestellt zugunsten von mehr Sozialpolitik und Konsum. Das bedeutete Lohnerhöhungen, mehr Urlaub und eine Verbesserung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, aber auch eine Steigerung der Konsumgüterproduktion sowie eine Ankurbelung des Wohnungsbaus.
Finanzen und Zusammenbruch der DDR
Über die Finanzierung machte man sich wenig Gedanken: Bei einer allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards würde sich die Erhöhung der Arbeitsproduktivität schon von selbst einstellen. Ein Irrglaube. Als die DDR 1989 zusammenbrach, war die Produktivität äußerst niedrig, 70–80% des Volkseinkommens wurden verkonsumiert, für notwendige Investitionen blieb kaum etwas übrig. So erklärt sich auch der katastrophale technische Zustand vieler Betriebe im Jahre 1989: Es hatte weniger am guten Willen, sondern einfach am Geld gefehlt, technische Modernisierungsmaßnahmen durchzuführen. Das aber hatte erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitssicherheit: Veraltete Maschinen, fehlende Schutzkleidung, nachlässiger Umgang mit den eigentlich vorbildlichen Arbeitsschutzvorschriften der DDR machten das Arbeiten im „Arbeiter- und Bauernstaat“ zu einem riskanten Unterfangen.
Autor: Michael Fiedler
Papier ist geduldig
„Arbeitsstätten, Betriebsanlagen, Betriebseinrichtungen und Arbeitsmittel sind so zu projektieren, zu konstruieren, herzustellen, zu errichten, zu unterhalten und instand zu setzen, dass sie eine hohe Sicherheit gewährleisten und körperlich schwere sowie gesundheitsgefährdende Arbeiten weitgehend einschränken.“
Aus dem „Gesetzbuch der Arbeit“
Zwei Systeme…
Auch institutionell gingen Ost- und Westdeutschland beim Arbeitsschutz getrennte Wege. So wurden in der sowjetischen Besatzungszone bereits 1945 neue Abteilungen für Arbeitsschutz gegründet, die bei der „Zentralverwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge“ (ZVAS) angesiedelt waren. Diese ersetzten in den folgenden Jahren Berufsgenossenschaften, Gewerbeaufsichtsämter und alle Institutionen, die vor der deutschen Teilung für den Arbeitsschutz zuständig gewesen waren. In Westdeutschland hingegen knüpfte man 1945 an die Traditionen von vor 1933 an, also an den Dualismus von staatlichen und selbstverwalteten Arbeitsschutzinstitutionen.
Wunsch und Wirklichkeit
„Es ist zwar gelungen, fast alle Arbeitsunfälle zu erfassen, aber es ist noch nicht gelungen, sie wesentlich einzuschränken. Im Gegenteil ist im Jahre 1948 noch eine Steigerung um ca. 24% zu verzeichnen, wobei zwar die schweren Unfälle eine wesentliche Senkung erfuhren, die Senkung der tödlichen Unfälle dagegen noch nicht in dem Maße eingetreten ist, wie es notwendig wäre. (…) Die Mängelfeststellung erscheint noch als durchaus unbefriedigend. Der tatsächliche Zustand unserer Betriebe wird in diesen Feststellungen nicht widergespiegelt. Bedeutende Engpässe sind ungeeignete Beleuchtung (Mangel an Glühlampen) und fehlende Schutzkleidung.“
Bericht eines Landesarbeitsinspektors, 1949
Unsere Webinar-Empfehlung
15.06.23 | 10:00 Uhr | Maßnahmenableitung, Wirksamkeitsüberprüfung und Fortschreibung – drei elementare Bausteine in jeder Gefährdungsbeurteilung, die mit Blick auf psychische Belastung bislang weniger Beachtung finden.
Sicherheitsbeauftrager 01|2010