Für Prof. Dr. Stephan Convent, Studiendekan für Sicherheitsmanagement, Betriebswirtschaft, General Management und Wirtschaft- und Recht an der Diploma Hochschule, darf Arbeitssicherheit keine Floskel sein, sondern muss von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelebt werden. Darauf schließt er in Anlehnung an Albert Schweizer der eins meinte, dass es besser sei, hohe Grundsätze zu haben, die man befolgt, als noch höhere, die man außer Acht lässt. Zu einschneidend seien die Konsequenzen, die ein Unfall für das Leben eines Menschen habe, führt Convent aus. Die individuelle Arbeitssicherheit sei demnach ein einschlägiges Gebot der Unternehmensethik unabhängig des kulturellen Kontextes, das von jedem Beteiligten im Sinne aller gelebt werden müsse. So wusste bereits Werner von Siemens 1880: „Das Verhüten von Unfällen darf nicht als eine Vorschrift des Gesetzes aufgefasst werden, sondern als ein Gebot menschlicher Verpflichtung und wirtschaftlicher Vernunft.“
Prof. Dr. Stephan Convent zu Ethik in der Arbeitssicherheit
Ethik – ein schwergewichtiges Wort, das in Zeiten der Pandemie und durch neue Gesetze wie das Lieferkettengesetz zunehmend im Unternehmensumfeld an Bedeutung gewonnen hat. Wo sehen Sie die ethischen Ansatzpunkte in der Arbeitssicherheit und wie hat Ihr Unternehmen diese vielleicht bereits aufgegriffen?
Ethik ist im Ursprung ein Teilbereich der Philosophie, wobei im Zentrum das moralische Handeln steht. Hierbei ist die Reflexion und Begründbarkeit zentral – ein Aufgabenspektrum, das auch sehr gut in das System Hochschule im Allgemeinen und in die Diploma im Besonderen passt. Wir bei der Diploma messen sowohl der Arbeitssicherheit als auch der Ethik einen hohen Stellenwert bei, wie es auch in den Curricula zu sehen ist. Mit Start 10/2021 befassen sich unsere Studierenden des Studiengangs „Sicherheitsmanagement“ in den Lehrveranstaltungen „Wirtschaftsethik“ und „Brand- und Arbeitsschutz“ mit relevanten aktuellen und historischen Fragestellungen wie dem Bhopal-Unglück. Sie lernen zu unterscheiden, zwischen institutionellen, ökonomischen und moralischen Gründen der CSR und erkennen kulturelle Einflüsse. Anhand mehrerer Beispiele erkennen die Studierenden, dass auch entlang von Wertschöpfungsketten viel Gutes getan werden kann, beispielsweise wenn sie anhand des Shared Value-Ansatzes von Porter/Kramer Wertschöpfungsketten analysieren.
“Das Leben ist schön, solange nichts passiert” – Im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit nicht zu verunfallen, ist keine Frage des Glücks. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen in der Gratwanderung zwischen einer ethischen Umsetzung der Vorschriften in Korrelation mit der Gewinnmaximierung des Unternehmens?
Gleich zu Beginn ihres Studiums wird unseren Studierenden der Wirtschaftswissenschaften beigebracht, dass die zentrale Legitimationsgrundlage eines Managements die Knappheit an Ressourcen ist. Das Gewinnprinzip des Marktes kann hierbei nicht in Frage gestellt werden, da es, wie Steinmann/Löhr es einst unterstrichen, die historisch-strukturelle Vorgabe für alle Unternehmen in der Wettbewerbswirtschaft ist. Die betriebswirtschaftliche Praxis und das Studium baut fast ausschließlich auf dem Gedanken auf, dass Akteure mit diesen begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen das Maximum an Ergebnis — sei es finanzieller oder wohlfahrtssteigener Art – zu erzielen ist. Nicht anders ist es in der Arbeitssicherheit. Auch hier ist es das Ziel, ein Höchstmaß an Sicherheit zu erreichen. Unsere Aufgabe als Sicherheitsmanager ist es, aus den zur Verfügung stehenden Mitteln ein Maximum an Sicherheit zu erzielen. Dennoch wird der Faktor Arbeit, um den es in der ethischen Betrachtung besonders geht, nicht an allen Produktionsorten dieser Welt gleich geschützt. Im Rahmen des Nearshorings entstanden die mexikanischen Maquiladoras, die mit US-amerikanischen Arbeitssicherheitsstandards konkurrieren. Zentral ist hierbei auch die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter, deren Arbeitssicherheitsstandards nicht mit den US-amerikanischen zu vergleichen sind und ein Streitpunkt der letzten beiden amerikanischen Wahlkämpfe war. Zwar etwas in die Jahre gekommen zeigt der 2006 veröffentlichte Film Maquilapolis von Funari und de la Torre auf eindrückliche Weise, wie Mitarbeiter behandelt werden können – ganz im Sinne von Neubergers der Mensch ist Mittel. Punkt.
Wo sehen Sie Zusammenhänge zwischen einer Sicherheitskultur im Unternehmen und einer ethischen Umsetzung?
Ein nicht zu unterschätzender Bestandteil der Unternehmensethik ist die Führungsethik, da insbesondere Führungskräfte mit Werthaltungen Unternehmen stark prägen. Hierbei muss es den Führungskräften möglich sein, auch zu reflektieren und die Unternehmensstrategie in Frage zu stellen. Wird eine Unternehmung als kulturell erfundene Organisation begriffen, obliegt es insbesondere auch der Führungskraft, nötige Prozesse zu leiten. Hollnagel unterschied die Bausteine eines erfolgreichen Resilience Engineering, wenn dieser auf die Fähigkeiten des Learning, Responding, Monitoring und Anticipating verwies. Sind hier Fähigkeiten nicht ausreichend entwickelt, wird die Unternehmenssicherheit dysfunktional. Hier ist es die Aufgabe der Führungskraft, anzusetzen. Hollnagel unterscheidet weiter hinsichtlich Einsatzbereiche. Im Sinne von Safety I ist ein reaktives kausalanalytisches Verständnis erforderlich. Steigert sich hingegen die Komplexität des Anwendungsfeldes, so werden proaktive systemische Ansätze mit einer großen Bedeutung des Verständnisses erforderlich. Der Mensch wird hierbei weniger als Teil eines Prozesses zur Fehlereliminierung als vielmehr als wertvolle Ressource gesehen, die befähigt werden soll, auf unterschiedlichste Umstände flexibel und effizient zu reagieren. Hier wird der Mensch und die Kultur zum Mittelpunkt.
Durch die Pandemie waren viele Unternehmen dazu gezwungen, das Arbeitsumfeld der Mitarbeitenden von einem Tag auf den anderen vollständig umzukrempeln. Plötzlich sah man sich der Herausforderung gegenübergestellt, dass beispielsweise alle Büro-Mitarbeitende im Home Office arbeiten mussten. Inwieweit hat die Pandemie mit seinen vielfältigen Herausforderungen an die Arbeitssicherheit eine Veränderung im Umgang miteinander und in der Umsetzung der Arbeitssicherheitsmaßnahmen bewirkt?
Das Unternehmen hat aus verständlichen Gründen kaum Gestaltungsmöglichkeiten im Home Office der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. So ist es ihm nur sehr eingeschränkt möglich, einen ergonomisch zielführenden Arbeitsplatz sicherzustellen. Auch Hinweise auf mögliche Gefahrenquellen sind über die Kollegen und zuständigen Abteilungen nur schwer zu identifizieren. Hinzu kommen beiläufig indirekte Probleme. So legen Studien nahe, dass Home Office zu Bewegungsmangel und Übergewicht führe. Hier ist es wichtig, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Wichtigkeit einer gesundheitlichen Balance zu sensibilisieren.
Unabhängig von den Auswirkungen der Pandemie: Was wäre Ihre Wunschvorstellung zur Berücksichtigung ethischer Komponenten in der Arbeitssicherheit?
In Deutschland haben wir bereits erfreulicherweise einen hohen Standard der Arbeitssicherheit etablieren können. Sicherlich können auch hierzulande noch viele weitere Verbesserungen vorgenommen werden. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann sind es international verbindliche hohe Mindeststandards an die Arbeitssicherheit aller Menschen. Umsetzbar wird das jedoch vermutlich nur, wenn jeder Einzelne von uns beispielsweise in seiner durchaus gewichtigen Rolle als Kunde auch im Zweifel aus ethischen Gründen Verzicht übt. Wie schwer dieser Verzicht fallen kann, wird auch anhand eines Beispiels deutlich. Mein Sohn im Grundschulalter freut sich schon sichtlich auf die kommende Fußballweltmeisterschaft in Katar, einem Land, in dem unter katastrophalen Arbeitsbedingungen Menschen beim Bau der Infrastruktur für das Event sterben. Amnesty International veröffentlichte im August 2021 einen Bericht über 15.021 zwischen 2010 und 2019 gestorbene Gastarbeiter. Auch der Guardian berichtete zuvor bereits von mehr als 6.500 toten Arbeitsmigranten mit dem Verweis, dass die tatsächliche Anzahl mangels Daten einiger Herkunftsländer noch höher sein wird. Ein großangelegter Boykott mag eine Option sein, nur realistisch ist dieser nicht. Dänemarks Nationalmannschaft fand hier einen interessanten Mittelweg. Statt der Sponsoren werden die Trainingstrikots sichtbar Menschenrechtsproklamationen enthalten – ein Beitrag, um auf die mangels Arbeitssicherheit gestorbenen Menschen aufmerksam zu machen. Es wird im persönlichen Umfeld sehr schwer sein, die WM zu verfolgen oder persönlich zu boykottieren – ein Dilemma, das so manchen weiteren Familienvater vor dem Hintergrund dieser prominenten eklatanten Missachtung von Arbeitssicherheit treffen wird. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass kein Mensch mehr für unseren Spaß aufgrund von Nachlässigkeiten und Missachtungen persönlicher Sicherheit sterben muss.
Wie müsste ein Konzept der Unternehmensethik aufgebaut sein?
Wichtig ist aus meiner Sicht ein Level Playing Field, damit Kostenvorteile insbesondere in den sehr kostensensiblen Branchen nicht zu Lasten der Arbeitsplatzsicherheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern realisiert werden. Alle Unternehmen sollten grundsätzlich einen ausreichend hohen Arbeitsschutz auch länderübergreifend sicherstellen müssen. Hier sind performante nationale wie internationale Gesetzeswerke als Mindestgrundlage erforderlich und eine gut ausgeprägte Compliance, die die Umsetzung garantiert. Um eine Kontrolle sowie einen Fluss von Informationen von außen zu gewährleisten, sind externe Gutachter im System erforderlich. Darüber hinaus ist das Wirken einer jeden Mitarbeiterin und eines jeden Mitarbeiters unerlässlich.
Das Interview führte Saskia A. Rotterdam