Wird die Bedeutung einer solchen Pflichtendelegation in Schriftform überschätzt? Nicht alle Pflichten sind immer explizit beschrieben, sie leiten sich auch aus Stellenbeschreibungen, der betrieblichen Organisation und Praxis unter anderem ab. Ist das Führungskräften immer bekannt und sind sie in der Praxis dazu geschult worden?
In unserer betrieblichen Praxis eines großen Unternehmens im Anlagenbau stellten sich weitere Fragen:
- Müssen wir näher und investigativer an die individuellen Wissens- und Erfahrungshorizonte von Führungskräften im Arbeitsschutz gehen?
- Müssen bestehende Unterweisungskonzepte überprüft und kritisch hinterfragt werden?
- Wie stellen wir sicher, dass neue Führungskräfte das erforderliche Grundwissen zu Sicherheit und Gesundheit besitzen?
Diese Herausforderungen haben viele Unternehmen. Es ist klar, dass der immer gleiche Foliensatz in einer Unterweisung auf Dauer seine Wirkung verliert und das angepeilte Ziel nicht mehr erreicht wird. Folglich sind Umdenken und mehr soziale Interaktion notwendig, um Führungskräfte (FK) gut abzuholen.
Unternehmen müssen neue Ansätze entwickeln und ausprobieren. Erfolgversprechend scheint uns, jede Schulung beziehungsweise Unterweisung interaktiv und integrativ zu gestalten, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Auch haben wir unterschiedliche Methoden und Medien kombiniert, um verschiedene Lern- und Wahrnehmungskanäle anzusprechen.
Elemente der Unterweisung
Je nach FK variieren Methoden und Ablauf, Kern sind aber die folgenden Elemente:
- Anlass: (Neu)-Einstellung vor Arbeitsbeginn bzw. vor einer neuen Tätigkeit als FK
- Thema: Schulungs- und Unterweisungskonzept für Führungskräfte
- Lernziel: Erforderliches Grundwissen zu Sicherheit und Gesundheit vor Antritt der Führungsverantwortung vermitteln und Rechtssicherheit herstellen
- Inhalte: TOP 10 (siehe unten)
- Methoden und Medien: Mischungen aus Lehrvortrag und- gespräch, Demonstration und Übung, Moderation und Diskussion
- Teilnehmende: Angehende oder aktuelle Führungskräfte
In unserer andauernden Test- und Erprobungsphase entwickeln wir ein mehrstufiges Vorgehen gemäß dem Motto „Nicht alles auf einmal reinwerfen“, sondern Feedbackschleifen einbauen, um Unterstützungsbedarf zu eruieren.
Es beginnt mit einem persönlichen Gespräch zwischen der Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa) und der FK. Hier heißt es sich in angenehmer Atmosphäre (besser) kennenlernen und aufzeigen, wie und wo wir unterstützen können. Dabei werden die Einstellung und die Grundkenntnisse zum Arbeitsschutz erfragt.
Ohne diese Ist-Stand-Erfassung ist es sonst nicht möglich, Herausforderungen zu lösen oder kritische Situationen zielgerichtet zu verbessern oder anzupassen. Je nach Wissensstand, Einstellung und Grundkenntnissen ergibt sich unsere Rolle im Miteinander. Wo auf der Sicherheitskulturleiter befindet sich die FK und wie müssen wir unterweisen?
Es ist nicht nachteilig, eine Unterweisung mit einer frontalen Wissensvermittlung zu beginnen, danach sollte aber ein aktiver Part ansetzen. Es folgt „Grundlagen schaffen durch autodidaktisches Lernen“. Eine Zuweisung von digitalen Unterweisungsmedien mit Gamification-Aspekten zu Themen wie
- Arbeitsschutz-Pflichten für Führungskräfte
- Gefährdungsbeurteilung – Pflichten für FK
- Pflichtendelegation FK
- Mutterschutz für Arbeitgeber (Führungskräfte)
- Psychische Belastung – Wissenswertes für FK
Nach Umsetzung erfolgt eine weitere Einladung zum persönlichen Austausch inklusive Demonstration und Übung. Der Austausch erfolgt auf Basis der TOP 10. Daraus leiten sich die wesentlichen Punkte und Inhalte gemäß §§ 6, 9, 10, 11, 12 ArbSchG aus dem spezifischen Betrachtungsraum ab.
TOP 10 Arbeitsschutzwissen für FK
TOP 1 – Gefährdungsbeurteilung
Herzstück der betrieblichen Schutzkonzepte nach dem Arbeitsschutzgesetz ist die Gefährdungsbeurteilung (GB). Die Gefährdungen ergeben sich aus dem Betrachtungsraum mit der zentralen Frage für die Führungskraft: Können meine Mitarbeitenden ihre Aufgaben sicher und gesund ausführen?
Vor den sieben Schritten der systematischen Durchführung der Gefährdungsbeurteilung steht jedoch das Verstehen des individuellen Betrachtungsraumes der Führungskraft: Welche Gefährdungs- und Belastungsfaktoren gibt es, was wurde bisher in der Gefährdungsbeurteilung erfasst, was wurde an Maßnahmen betrieblich umgesetzt?
Anhand der Beispiele und Gefährdungen aus dem jeweiligen individuellen Betrachtungsraum (Büro, Werkstatt, Freigelände, Baustelle) ergeben sich in den dargestellten Inhalten erste Rückfragen. Was sich als bekannt im Miteinander ergibt, wird nicht weiter vertieft; es geht um Ergänzen und Aufbauen.
TOP 2 – Dokumentation
Das Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung, die vom Arbeitgeber festgelegten Maßnahmen und das Ergebnis ihrer Überprüfung müssen dokumentiert werden. Die neue FK muss wissen, was dazu schon vorhanden ist, wo die Informationen zu finden sind und wo sie etwas nachlesen kann.
Was muss sie erledigen, wo liegen die jeweiligen OSH-Vorlagen, wer kann zu welchem Thema befragt werden? Dabei können wir gut aufzeigen, was schon länger liegt und von der FK zeitnah angefasst werden muss.
Dokumentation
- der Prüfung von Arbeitsmitteln und Anlagen
- der Bestellung von Sibe, Stichwort: Who is who
- von Unfällen und von Erste-Hilfe-Leistungen (Vorlagen und Formularen)
- Arbeitsmedizinische Vorsorgekartei
- Schriftliche Betriebsanweisungen und Unterweisungen (Vorlagen)
TOP 3 – Besondere Gefahren
Hier geht es um gefährliche Arbeiten und Arbeiten in gefährlichen Bereichen (§ 9 Besondere Gefahren).
TOP 4 – Erste Hilfe und Notfälle
§ 10 ArbSchG: Wer macht was und wer ist für was verantwortlich? Beispiele aus dem Betrachtungsraum helfen im Verstehen: Wo sind Erste-Hilfe-Dokumente/Infos und anderes zu finden?
TOP 5 – Arbeitsmedizinische Vorsorge
Namen der Beteiligten nennen, Betriebs-/Werksarzt (wo zu finden, welche Formulare, wie in Kontakt treten), Vorlagen wie eine Arbeitsplatzbelastungsmatrix zeigen, stets Beispiele nennen, was ist an Inhalt zu Top 5 in der individuellen Gefährdungsbeurteilung enthalten (§ 11 Arbeitsmedizinische Vorsorge).
TOP 6 – Unterweisung/Betriebsanweisungen (BA)
Nach § 12 ArbSchG Unterweisung: Allgemeine und spezielle Arten von Unterweisungen und Unterweisungsanlässe, bisher gelaufene Unterweisungsthemen im Bereich. Allgemeiner Aufbau einer BA, Unterschiede und Gemeinsamkeiten von BAs, spezifische Arten von BAs aus dem Bereich aufzeigen.
TOP 7 – Besonders schutzbedürftige Personengruppen
Nach § 4 Nr. 6 ArbSchG: Welche Personengruppen haben besondere Konstitutions- und Dispositionsmerkmale? Gibt es Beschäftigte mit chronischen Erkrankungen, mit Einschränkung oder (Schwer-)Behinderung, jugendliche Beschäftigte unter 18 Jahren, werdende oder stillende Mütter, Personen, die Tätigkeiten mit KMR-Stoffen ausführen sollen usw.?
Welche Rechtsvorschriften gelten für diese und welche sind dabei aus dem Verantwortungsbereich der FK bekannt? Auf was muss geschaut werden (was steht zu Top 7 in den individuellen Gefährdungsbeurteilungen?)?
TOP 8 – Kontrolle und Überprüfung
Wie kann und muss das in der betrieblichen Realität erfolgen? Wie läuft die Maßnahme?
TOP 9 – Kommunikation
Neugierig bleiben, informieren, motivieren, einbeziehen, Wissen erweitern und weitergeben.
TOP 10 – Vorbild im Arbeits- und Gesundheitsschutz
Was heißt das und wie kann das in der betrieblichen Realität aussehen?
Vor-Ort-Begehung und soziale Interaktion
Im Anschluss erfolgt die schon erwähnte Demonstration und Übung, also die soziale Interaktion vor Ort: gemeinsamer Rundgang und Begehungen im Verantwortungsbereich der FK – falls möglich mit den Sicherheitsbeauftragten.
Es ist das praktische Aufzeigen der Inhalte aus dem zuvor gemeinsam durchgeführten Austausch, also die buchstäbliche Untersuchung des individuellen Betrachtungsraumes. Hier heißt es hingehen, anfassen und aufzeigen. Dabei werden BAs, Aushänge, aktuelle Fluchtwege, Rettungs- und Brandschutzpläne und ‑wege genutzt, Erste Hilfe und sonstige Notfallmaßnahmen besichtigt, eingesetzte Löschmittel und vorhandene Meldeeinrichtungen gezeigt.
Je nach Interesse erfolgt ein Angebot zu einem gemeinsamen späteren Besuch beim Werksarzt. Es ist eine erste gemeinsame Aufnahme mit der FK. Sicherlich lassen sich daraus auch weitere Maßnahmen mitnehmen.
Ergeben sich nach einiger Zeit noch offene Punkte, kann durch die Methode von Moderation und Diskussion ergänzt werden z. B. in Form eines Tagesworkshops für Führungskräfte mit Planspiel Arbeitssicherheit oder Angebot/Aufforderung zur Teilnahme an BG-Kursen mit dem Oberthema „Arbeitsschutzverantwortung bei Führungskräften“ (siehe auch TOP 9/TOP 10) So kann ein finaler Baustein im Konzept erfolgen.
Eine „One size fits all“-Lösung kann es nicht geben. Wir erstellen die Schwerpunkte bezogen auf die jeweiligen Führungskräfte. Was braucht diese aktuell und zeitnah an Wissen, Hilfe, Unterstützung und was ist an einigen Stellen zunächst „nachrangig“ wichtig?
In der richtigen Mischung ist es nicht nur ein Schulungs- und Unterweisungskonzept für Führungskräfte (im Rahmen der Pflichtenübertragung), es zeigt auch die wichtigsten Führungsmittel für Sicherheit und Gesundheit auf. Gesundes Führen heißt, sich an die TOP 10 zu halten. Das ergänzt und formt im besten Sinne die Führungs- und Sicherheitskultur des Unternehmens.