Das neue Bürogebäude ist fertig. Die Teilnehmer der Arbeitsschutzbegehung laufen durch die Gänge und sind sichtlich beeindruckt von der Architektur des neuen Gebäudes. Alles läuft gut, bis die Fachkraft für Arbeitssicherheit vor einer Notausgangstür stehen bleibt, die nach innen aufschlägt!
„Türen von Notausgängen in Arbeitsstätten müssen sich nach außen öffnen lassen!“, sagt sie, wirft einen kritischen Blick auf die fabrikneue Tür und fügt hinzu: „Nach Punkt 3.6 der Technischen Regel für Arbeitsstätten ASR A 2.3 ist ein Notausgang ein Ausgang im Verlauf eines Fluchtweges, der direkt ins Freie oder in einen gesicherten Bereich führt. Manuell betätigte Türen in Notausgängen müssen in Fluchtrichtung aufschlagen.“
Nach einem Moment der Stille folgt von Arbeitgeberseite aus schließlich polternd die alles entkräften wollende Aussage: „Aber wir haben doch eine Baugenehmigung! Da wurde alles geprüft! Es ist also alles in bester Ordnung!“
Das Märchen von der erteilten Baugenehmigung, die eine Garantie für eine rechtssichere Planung ist
Hat die Arbeitgeberseite recht? Machen wir es kurz, schauen wir uns an, was Behörden auf diese Frage antworten:
Sachsen sagt dazu: „Verallgemeinernd lässt sich festhalten, dass eine Baugenehmigung nach SächsBO nach der Neustrukturierung der Genehmigungsverfahren im Jahr 2004 keine „umfassende öffentlich-rechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung“ ist. Der Bauherr ist vielmehr selbst dafür verantwortlich, dass Anforderungen, die durch öffentlich-rechtliche Vorschriften an Anlagen gestellt werden, eingehalten werden, vgl. § 59 Absatz 2 SächsBO.“
Auch Schleswig-Holstein schließt sich dieser Antwort an: „Es wird nicht mehr geprüft und daher ist die Baugenehmigung nicht die Garantie, eine rechtssichere Planung zu besitzen, außer bei Sonderbauten. Hier ist im Rahmen der Liberalisierung des Baurechts (LBO 2009) die Verantwortung an die am Bau Beteiligten (Architekten, Bauingenieure, Bauleiter Bauherr usw.) verlagert worden.“
Das Märchen vom Baugenehmigungsverfahren, in dem auch das Arbeitsstättenrecht geprüft wird
Wie wir soeben festgestellt haben, stellt die Baugenehmigung keine umfassende öffentlich-rechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung dar. Und wie sieht es mit der vollumfänglichen Prüfung aus? Wird im Baugenehmigungsverfahren tatsächlich alles geprüft, wie der Arbeitgebervertreter der Fachkraft für Arbeitssicherheit weismachen will? Auch diese Antwort ist bereits klar (siehe oben). Doch lassen wir auch zu diesem Punkt erneut einige Behörden zu Wort kommen:
„In Sachsen-Anhalt müssen Sie davon ausgehen, dass bei Baugenehmigungen Teile des öffentlichen Rechts, wie z.B. des Arbeitsstättenrechtes mit Bezug zu Anforderungen an die bauliche Anlage nicht mehr geprüft werden. […]“, so die Antwort aus Magdeburg.
„Auch in Bayern gehören die Regelungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in Baugenehmigungsverfahren regelmäßig nicht mehr zum Pflichtprüfprogramm. […]“, so die Reaktion aus München.
Hessen sagt: „Nein, der bauliche Arbeitsschutz wird in keinem Fall geprüft.[…]“
„Auch in Mecklenburg-Vorpommern ist der Bauherr oder Betreiber für den Arbeits- und Gesundheitsschutz verantwortlich. Im Baugenehmigungsverfahren erfolgt keine Prüfung dieser Belange. […]“, so die kurze Antwort aus Rostock.
Und auch in Thüringen „[…] ist Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht Gegenstand der Baugenehmigung“, sagt Erfurt.
Keinesfalls verschwiegen werden soll, dass man eine etwas andere Antwort aus dem Bundesland Rheinland-Pfalz und aus dem Saarland bekommt:
Rheinland-Pfalz sagt: „Nach der Landesbauordnung Rheinland-Pfalz (LBauO) ist im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen, ob einem Vorhaben baurechtliche oder sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften entgegenstehen (§ 65 Abs. 1 LBauO). […]“
Und auch im Saarland geht man mit dem Arbeitsstättenrecht im Baugenehmigungsverfahren etwas anders um: „Unter das Baugenehmigungsverfahren nach § 65 LBO fallen alle Vorhaben der Gebäudeklasse 4 und 5 (sowie Nebengebäude und Nebenanlagen hierzu), alle Sonderbauten unabhängig der Gebäudeklasse und alle Vorhaben, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden muss. Darüber hinaus besteht für den Bauherren die Möglichkeit, ein Vorhaben, das grundsätzlich im vereinfachten Verfahren geprüft werden müsste, auf eigenes Verlangen im Baugenehmigungsverfahren nach § 65 LBO prüfen zu lassen. In all diesen Fällen sind die Anforderungen der Arbeitsstättenverordnung zu prüfen.“
Es lässt sich im Ergebnis festhalten, dass es bundesweit sehr unterschiedliche Vorgehensweisen bei der Berücksichtigung der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) im Baugenehmigungsverfahren gibt.
In den allermeisten Bundesländern – mit Ausnahme von Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland – wird das Arbeitsstättenrecht in den Landesbauordnungen nicht einmal mehr explizit erwähnt. Eine Prüfung des Arbeitsstättenrechts ist in fast allen Bundesländern zwar nicht unbedingt zwingend ausgeschlossen, findet aber – auch hier mit Ausnahme von Niedersachsen (Prüfung erfolgt allerdings nur auf Antrag des Bauherrn), Rheinland-Pfalz und dem Saarland – im Baugenehmigungsverfahren entweder von vornherein nicht mehr statt beziehungsweise kann auf Antrag des Bauherrn auf das öffentliche Recht beschränkt werden (siehe Sachsen-Anhalt).
Diese flächendeckende Nichtberücksichtigung des Arbeitsstättenrechts im Baugenehmigungsverfahren gibt es zum Teil bereits seit mehr als 20 Jahren!
Trotz dieser langen Zeit, in der keine Prüfungen des Arbeitsstättenrechts mehr stattfinden, scheint diese gängige Behördenpraxis vielen Arbeitgebern beziehungsweise Bauherrn noch immer völlig unbekannt zu sein. Nur so lässt es sich (hoffentlich!) erklären, dass es im Nachgang häufig zu Widersprüchen und nervenaufreibenden Diskussionen kommt. Die Arbeitgeber beziehungsweise Bauherrn wähnen sich aufgrund einer erteilten Baugenehmigung fälschlicherweise auf der rechtssicheren Seite und betrachten die Fachkraft für Arbeitssicherheit als Störenfried, der aus ihrer Sicht unberechtigterweise immer nur ein kostenintensives Maximum fordert.
Was bedeutet das Fehlen einer behördlichen Prüfung des Arbeitsstättenrechts im Rahmen eines Baugenehmigungsverfahrens für die Planung von Arbeitsstätten?
Eine erteilte Baugenehmigung ist aufgrund der fehlenden Prüfung des Arbeitsstättenrechts keine „umfassende öffentlich-rechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung“. Da das Arbeitsstättenrecht und das Bauordnungsrecht jeweils unabhängig voneinander gelten, müssen beide Rechtsgebiete bereits in der Planungsphase wirksam miteinander verknüpft werden. Dabei ist von den Verantwortlichen zu beachten, dass das (spezielle) Arbeitsstättenrecht dem Sozialrecht zugeordnet ist und bundesweit einheitlich gilt. Das (allgemeine) Bauordnungsrecht ist hingegen Sache der Länder. Etwas platt formuliert bedeutet das im Grunde, dass das spezielle Recht das allgemeine Recht „schlägt“. Das stimmt jedoch nicht so ganz, wie wir gleich sehen werden.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hat das Problem bereits vor Jahren erkannt und im Jahr 2018 ein umfassendes Rechtsgutachten zum Thema „Zusammenwirken von Arbeitsstättenrecht und Bauordnungsrecht“ veröffentlicht.
„Mit dem Gutachten sollten die Beziehungen zwischen dem Bauordnungsrecht und dem Arbeitsstättenrecht dargestellt werden. Insbesondere sollten Schnittstellen zwischen beiden Regelungsbereichen ermittelt und bewertet werden sowie tatsächlich oder vermeintlich widersprüchliche Anforderungen aufgedeckt werden.“
Die Gutachter aus dem Zentrum für Sozialforschung Halle e. V. an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, unter der Federführung von Herrn Prof. Dr. Wolfhard Kohte, kommen in ihrem 150-seitigen Bericht zu dem Ergebnis, dass sich durchaus eine systematische Einheit zwischen Arbeitsstättenrecht und Bauordnungsrecht herstellen lässt.
„Bauliche Anforderungen an Arbeitsstätten werden vor allem im Arbeitsstättenrecht und im Bauordnungsrecht formuliert. Da beide Rechtsgebiete nicht mit identischen Zwecken operieren, ergeben sich auf den ersten Blick nicht nur Schnittstellen, sondern auch Widersprüche; dies wird verdeutlicht, wenn nicht-normative Anforderungen (Arbeitsstättenregeln, Verwaltungsvorschriften, DIN-Normen) einbezogen werden, die in der Praxis eine große Rolle spielen. Gleichwohl hat eine tabellarische Übersicht gezeigt, dass die Rechtsnormen sich in der Regel ergänzen und nicht widersprechen.
Auf der Ebene des materiellen Rechts ist die Lösung von Widersprüchen zwischen beiden Rechtsgebieten möglich. In § 3a Abs. 4 ArbStättV ist ein klares Rangverhältnis zu anderen Rechtsvorschriften normiert: es gilt die jeweils weitergehende Rechtsvorschrift, die mehr Schutz vermittelt.“
Erfahrungsgemäß vermittelt das Arbeitsstättenrecht den höheren Schutz. Dennoch müssen beide Rechtsgebiete in der Planungsphase wirksam miteinander verknüpft werden. Und genau bei dieser verfahrensmäßigen Durchsetzung von Lösungen stellen die Gutachter erhebliche Probleme fest:
„So sind elementare Grundsätze des unionsrechtlichen Arbeitsstättenrechts nicht allgemein bekannt und werden folglich in der Planung und Baugenehmigungsverfahren für Arbeitsstätten nicht umfassend beachtet. Dieser Mangel an Informationen sowie Praxiswissen kann aber nicht durch Änderungen des materiellen Rechts beseitigt werden“, geben die Gutachter zu bedenken und machen abschließend Vorschläge, die zur Umsetzung von Bauvorhaben in der Praxis unter Beachtung der entsprechenden Regelwerke beitragen können:
„Das können Beratungs- und Informationsangebote für Planer, Arbeitgeber, aber auch für Betriebs- und Personalräte sein. Diese Angebote können Inhalte des Arbeitsstättenrechts umfassen und zusätzlich das Zusammenwirken von Arbeitsstätten- und Bauordnungsrecht aufzeigen. Eine wichtige Rolle für die Umsetzung des Arbeitsschutzes spielen zudem die Fachkräfte für Arbeitssicherheit, die nach § 5 Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) in jeden Betrieb zu bestellen sind. Sie sind nach ASiG an der Planung von Arbeitsstätten rechtzeitig zu beteiligten. Darüber hinaus sind Betriebsräte nach § 90 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ebenfalls rechtzeitig und umfassend bei der Planung von Arbeitsstätten zu beteiligen. Ziel sollte sein, in Bauprojekten Anforderungen des Arbeitsstättenrechts bereits in der Planung vollständig zu erfassen und mit dem Bauordnungsrecht abgestimmte Lösungen zu entwickeln.“
Leider ist man, wie die Praxis vielfach zeigt, von einer Umsetzung dieser Vorschläge noch recht weit entfernt. Daher wird es wohl auch weiterhin zu unschönen Diskussionen mit den Arbeitgebern beziehungsweise Bauherren kommen, wie auch das nachfolgende Praxisbeispiel zeigt – in diesem Beispiel geht es um die Konstruktion einer Treppe: Die bauliche Gestaltung einer Treppe ist für Fachkräfte für Arbeitssicherheit seit jeher ein immerwährender Quell der Freude. Scheint es doch erheblich einfacher zu sein, zum Beispiel das komplizierte Dach der Hamburger Elbphilharmonie zu konstruieren, als ein vernünftiges Steigungsverhältnis bei einer Treppe hinzubekommen oder gar einen ordentlichen Handlauf zu planen.
Selbstverständlich winkt der Arbeitgeber respektive Bauherr bei der Arbeitsschutzbegehung mit der Baugenehmigung. Doch leider wurde das Arbeitsstättenrecht im Baugenehmigungsverfahren nicht mitgeprüft und auch die Einbindung der Fachkraft für Arbeitssicherheit in die Planung erfolgte leider nicht – von der Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung ganz zu schweigen.
Und so kommt es zu einer unschönen Diskussion, in deren Verlauf die Fachkraft für Arbeitssicherheit zwar lobt, dass der Arbeitgeber beziehungsweise Bauherr die Musterbauordnung und die Bauordnung des Bundeslandes kannte und bei der Planung vielleicht sogar die DIN 18065 „Gebäudetreppen“ berücksichtigt hat. Doch um es rund zu machen, hätten beide Verantwortlichen im Vorfeld womöglich noch „ein wenig“ mehr berücksichtigen müssen, nämlich gegebenenfalls auch:
- Arbeitsstättenverordnung – ArbStättV
- ASR A1.8 „Verkehrswege“
- ASR A2.3 „Fluchtwege, Notausgänge, Flucht- und Rettungsplan“
- ASR A3.4 „Beleuchtung“
- Bauordnungsrecht der Länder (Landesbauordnungen)
- Musterbauordnung (MBO)
- DGUV Information 208–005 „Treppen“
- DGUV Information 208–028 – Fahrtreppen und Fahrsteige Teil 1: Sicherer Betrieb
- DGUV Information 208–029 – Fahrtreppen und Fahrsteige Teil 2: Montage, Demontage und Instandhaltung
- DIN 18065 „Gebäudetreppen – Definionen, Messregeln, Hauptmaße“
- DIN EN 115 „Sicherheitsregeln für die Konstruktion und den Einbau von Fahrtreppen und Fahrsteigen“
- VdTÜV-Merkblatt 1504 „Grundsätze für die Prüfung von Fahrtreppen und Fahrsteigen“
Die vorangegangene Aufzählung erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit … Wie man aber gut an der Vielzahl der mitgeltenden Regelungen sieht, besteht bei Themen im Arbeitsstättenrecht oftmals ein erheblicher Beratungsbedarf und vor allem Beratungsaufwand.
Hätte der Arbeitgeber oder der Bauherr bei der planerischen Gestaltung der Treppe die aufgeführten Regelungen berücksichtigt, dann wäre es vielleicht etwas zwischen ihnen und der Fachkraft für Arbeitssicherheit geworden.
Genützt hätte es insgesamt aber wohl nichts, denn noch während der Diskussion zur baulichen Gestaltung der Treppe fällt der Blick der Fachkraft für Arbeitssicherheit auf zwei 5kg-CO2-Löscher, die direkt vor der Tür zu einem 8m2 kleinen Raum an der Wand hängen. Bereits jetzt freut sich der Berater wie Bolle auf den gleich folgenden Disput über die Bedeutung des eingereichten und mitgenehmigten Brandschutzkonzeptes und die erteilte Baugenehmigung. Ach ja, und dann war da ja noch die falsche Aufschlagrichtung der Notausgangstür und die …
Weitere Informationen zum Rechtsgutachten „Zusammenwirken von Arbeitsstättenrecht und Bauordnungsrecht“ aus dem Jahr 2018:
- Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuB) unter https://www.baua.de/DE/Themen/Arbeitsgestaltung-im-Betrieb/Arbeitsstaetten/Arbeitsstaettenrecht-Bauordnungsrecht.html
- Rechtsgutachten zum Zusammenwirken von Arbeitsstättenrecht und Bauordnungsrecht unter https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Gd95.html
- Ein kompakter Bericht zum Zusammenwirken von Arbeitsstättenrecht und Bauordnungsrecht unter https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Bericht-kompakt/Gd95.html