Es bedarf also übergreifender Methoden für den Nachweis der Sicherheit. Denn die verschiedenen Vorgaben können gleichzeitig zutreffen. Dies wird am Beispiel eines Schulbaus deutlich: Eine Schule kann über die Musterschulbaurichtlinie gebaut werden; für die Beschäftigten vor Ort tritt jedoch der Arbeitsschutz in Kraft. Findet ein großes Schulfest statt, kommt noch die Musterversammlungsstättenverordnung (MVStättVO) hinzu. Nach welchen Regeln soll nun die Sicherheit der Lehrer und Lehrerinnen also bewertet werden? Zunächst können die Schulbaurichtlinie sowie die Technische Regel für Arbeitsstätten ASR A2.3 „Fluchtwege und Notausgänge, Flucht- und Rettungsplan“ herangezogen werden. Hier finden sich konkrete Maße für Anzahl, Anordnung und Abmessung der Fluchtwege. Dort wird definiert, wie viel Fluchtwegbreite für die jeweilige Anzahl der Personen zur Verfügung stehen muss. Diese Werte basieren jedoch nicht mehr auf dem aktuellen Erkenntnisstand.
Fortschreibung der ASR A2.3
Um eine Fortschreibung der ASR A2.3 in die Wege zu leiten, hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) im Auftrag des Ausschusses für Arbeitsstätten (ASTA) die Anpassung der aktuell anerkannten Regeln der Technik geprüft. Insbesondere die Fluchtwegbreiten und auch die Zusammenflüsse von Personen mehrerer Ebenen müssen neu bewertet werden. Um die neuen Werte wissenschaftlich belegbar zu machen, wurde ein Fachgutachten in Auftrag gegeben mit dem Ziel, mithilfe von ingenieurtechnischen Verfahren zu prüfen, inwieweit die bestehenden Vorgaben angepasst werden müssen.
Simulationsmodelle zu Räumungszeiten
Im Auftrag der BAuA haben accu:rate GmbH aus München und IST GmbH aus Frankfurt a. M. mit zwei unabhängigen mikroskopischen Simulationsmodellen untersucht, wie die Breite von Wegen, Treppen, Türen und Einengungen die Räumungszeiten beeinflussen, und welchen Einfluss eine zeitlich versetzte Nutzung der Fluchtwege bei mehrgeschossigen Gebäuden hat. Solche Simulationen betrachten die Bewegung jeder einzelnen Person in einer vorgegebenen Geometrie. Sie können dadurch belastbare Vorhersagen zu Räumungszeiten und Staudauern sowie zu neuralgischen Punkten im Gebäude treffen. Zum Vergleich und zur Einordnung der Ergebnisse wurden zusätzlich makroskopische Modellrechnungen durchgeführt sowie bisherige Studien und Daten zusammengetragen.
Die Ergebnisse zeigen, dass kurze Einengungen auf horizontalen Wegen kaum Auswirkungen auf die Räumungszeit haben. Auch Einengungen unmittelbar vor Treppen zum Beispiel durch Türen im Rahmen der zulässigen Werte sind vernachlässigbar, da die vertikalen Fluchtwegelemente selbst flussverringernd wirken. Weiter konnte festgestellt werden, dass eine zeitlich versetzte Alarmierung die Entfluchtung der betroffenen Ebenen positiv beeinflusst. Die Auswirkungen müssen aber jeweils individuell pro Gebäude untersucht werden.
Im Rahmen des Fachgutachtens wurde auch für ein Schulgebäude untersucht, welchen Einfluss die Breite der Türen von Unterrichtsräumen auf die Gesamträumungszeit hat. Das Beispiel der Schule ist besonders, da diese Gebäude in Bezug auf die ASR problematisch sind: In vielen Klassenzimmern befinden sich mehr als 20 Personen, die Türbreiten sind oftmals aber geringer als die in der ASR 2.3 geforderten 1,20 Meter. Laut Bauordnung, also der Musterschulbauverordnung, war das bisher genehmigungsfähig, laut Arbeitsschutz jedoch nicht. Viele Schulen haben dieses Problem – doch Umrüsten wäre sehr teuer. Die Ergebnisse der Untersuchung haben dabei gezeigt, dass die Breite von einzelnen Türen keinen signifikanten Einfluss auf diese Gesamtzeit hat, jedoch die Breite von Einengungen – zum Beispiel durch Flureinbauten – und Treppen dafür maßgeblich ist).
Beispiel Räumungskonzept eines Gymnasiums
Wie ein konkreter Nachweis mit Simulationen erfolgen kann, ist am Beispiel der Überprüfung des Räumungskonzepts eines Gymnasiums beschrieben. Für den Neubau des Helene-Lange- Gymnasiums in Fürth soll die geordnete Räumung bei Schulbetrieb und voller Belegung betrachtet werden. Das Gebäude soll flexibel genutzt werden, weshalb keine klare Zuweisung von Personenzahlen zu Fluchtwegen erfolgen kann. Dies stellt den Brandschutz vor eine Herausforderung: Wie breit sollen die Fluchtwege geplant werden, so dass im Ernstfall jede Person rechtzeitig das Gebäude verlassen kann? Hier hat sich die Stadt Fürth entschieden, schon in der Planungsphase Räumungssimulationen einzusetzen, um den Neubau zukunftssicher auszulegen.
Bei der Analyse wurden unterschiedliche Belegungsoptionen des Gebäudes miteinander kombiniert, um eine ungünstige Belegung, einen sog. Worst Case, zu erarbeiten und diesen im Anschluss zu simulieren. Als nachzuweisendes Schutzziel wurde die Gesamträumungszeit unterhalb eines bestimmten Werts sowie das Vermeiden von signifikanten Staus, vor allem im Treppenbereich, festgelegt.
Mithilfe der Simulationen konnte das Brandschutzkonzept um einen leistungsbezogenen Nachweis ergänzt werden. Es wurde gezeigt, dass es möglich ist, auch besonders hohe Klassendichten oder Schülerzahlen in einzelnen Bereichen zuzulassen, da die geplanten Fluchtwege und Treppenbreiten ausreichend dimensioniert sind. Damit kann die Schule langfristig und flexibel genutzt werden.
Prüfbare Leistungskriterien jetzt möglich
Doch wie funktionieren solche Simulationen? Bei Räumungssimulationen wird die Fortbewegung von Personen über mathematische Modelle abgebildet. Als Eingabe benötigt man den korrekten Plan des zu simulierenden Gebäudes, durch dieses bewegen sich die virtuellen Personen. Damit erhält man eine realistische Abbildung davon, wie sich eine Räumung in dem betrachteten Gebäude entwickeln wird. Auf dieser Basis können dann Aussagen über die Räumungszeiten getroffen werden, kritische Bereiche identifiziert und Staus in diesen Bereichen analysiert werden. Mit Simulationen können Fragen zur Sicherheit von Bestandsgebäuden, zum Beispiel von Arbeitsstätten oder Versammlungsstätten, objektiv und reliabel beantwortet oder Neubauten planungsbegleitend hinsichtlich Sicherheit und Komfort analysiert werden.
Dass solche Räumungsberechnungen heute mehr und mehr an Bedeutung gewinnen, zeigt auch deren Aufnahme in die Normenreihe DIN 18009 Brandschutzingenieurmethoden Teil 2 „Räumungssimulation“. In diesem Teil ist das Vorgehen zur nachvollziehbaren und wiederholbaren Erstellung von Räumungsberechnungen beschrieben. Dazu wird ein schutzzielbasierter Ansatz beschrieben, der auf Basis von zu definierenden Bemessungsszenarien in Kombination mit prüfbaren Schutzzielen durchgeführt wird. Dies ist ein wichtiger Schritt, da nun Gutachten auf klar prüfbaren Leistungskriterien erstellt werden können, was die Begründung von Abweichungen objektiv und genehmigungsfähig macht.
Abweichungen kompensieren
Mithilfe von Simulationen kann also die Personensicherheit unabhängig von sich widersprechenden Verordnungen nachgewiesen werden. Die im März 2022 in Kraft getretene Fortschreibung der ASR A2.3 verwendet die im Fachgutachten ermittelten Erkenntnisse, um moderne Wege im Bereich Brandschutz in Arbeitsstätten zu gehen. Dies bringt einige Änderungen zur Bewertung und Auslegung der Fluchtwege mit sich und ermöglicht es, Abweichungen mit Unterstützung von ingenieurtechnischen Verfahren zu kompensieren. So können Gebäude zukünftig flexibler, aber weiterhin sicher genutzt werden.
Das Fachgutachten zur ASR A2.3 sowie die aktuelle Fassung der Arbeitsstättenrichtlinien stehen auf der Webseite der BAuA oder auf der Webseite der accu:rate GmbH zum Download bereit.
Sichere und reibungslose Abläufe testen und analysieren
Wenn viele Menschen auf begrenztem Raum zusammenkommen, können leicht Engpässe entstehen. Die Planung eines reibungslosen und sicheren Ablaufs bei Veranstaltungen, an Bahnhöfen und Flughäfen sowie in Gebäuden ist eine große Herausforderung. accu:rate bietet hier eine moderne Lösung an. Mit der eigens entwickelten Software crowd:it können komplexe Personenströme dargestellt und in verschiedenen Szenarien – von der Standardsituation bis hin zur Notfallevakuierung – getestet und analysiert werden. So ermöglicht accu:rate, Orte der Begegnung komfortabel und gleichzeitig sicher zu machen, und es konnten bereits eine Vielzahl von Kunden mit ihrer Expertise unterstützt werden: Diese reichen von öffentlichen Gebäuden wie dem Schloss Neuschwanstein oder normalen Bürogebäuden über Bahnhöfe und Flughäfen, bis hin zu Versammlungsstätten wie der Allianz Arena oder dem Oktoberfest. Entscheidend ist dabei nicht die Größe des Projekts, sondern die Komplexität der Fragestellung, was oftmals bei Abweichungen der Fall ist.
Mit dem Hintergrund der Ausgründung aus der Technischen Universität München arbeitet accu:rate sehr wissenschaftsnah. Das Unternehmen engagiert sich stark sowohl in der Forschung als auch in der Standardisierung von Ingenieurmethoden. Auch engagiert sich accu:rate in verschiedenen Fachverbänden und bringt sich in Normierungsvorhaben wie die der DIN 18009–2 zu Räumungssimulationen aktiv ein. Egal ob Veranstaltung oder öffentliches Gebäude, ob Kompensation von Abweichungen oder eine allgemeine Belastungsprobe eines Gebäudes – mit Personenstromsimulationen können sichere und komfortable Lebensräume geschaffen werden.
Autorin:
Dr. Dipl.-Inf. Angelika Kneidl
Geschäftsführerin accu:rate GmbH