Usedom/Peenemünde. August 1943. In der Nacht vom 17. auf den 18. August bombardiert die britische Luftwaffe erfolgreich die „Erprobungsstelle der deutschen Luftwaffe Peenemünde West“, die 1938 als Ergänzung zur bereits seit 1936 bestehenden „Heeresversuchsanstalt Peenemünde“ errichtet worden war. Entwickelt, getestet und produziert wurde hier unter der wissenschaftlichen Leitung von Walter Dornberger, Wernher von Braun u. a. die erste funktionsfähige Großrakete A 4 – besser bekannt unter ihrem Propagandanamen Vergeltungswaffe 2 (V2). Diese Waffe sollte die verloren gegangene militärische Überlegenheit auf den Kriegsschauplätzen zurückbringen, entsprechende Priorität genoss das Projekt bei Hitler und der Heeresleitung.
Dennoch war nach der Zerstörung an einen Aufbau am selben Ort angesichts der gegnerischen Luftüberlegenheit nicht zu denken; man suchte einen sicheren Produktionsstandort – und fand ihn im Kohnstein (Harz), der bereits über ein System alter Bergwerksstollen verfügte. Da diese Tunnel als Produktionsstätten zunächst nicht geeignet waren, musste der größte Teil der geplanten unterirdischen Anlage kurzfristig neu angelegt werden. Arbeitskräfte dafür standen in unbeschränktem Maße im nahegelegenen Konzentrationslager (KZ) Buchenwald zur Verfügung. Unter dem Namen „Dora“ wurde im August 1943 direkt am Kohnstein ein Außenlager des KZ Buchenwald eingerichtet. Die nächsten Monate dienten dazu, einen primitiven Tunnel in eine unterirdische Fabrik zu verwandeln. Damit begann für Tausende von Häftlingen des Lagers „Dora“ ein Weg des Leidens, der Qualen und des Sterbens, ihre – wie es die SS-Schergen nannten – „Verschrottung durch Arbeit“.
In der Hölle
Die erfolgreiche Produktion der V1 und V2-Raketen wurde von Hitler als kriegsentscheidend eingestuft. Deshalb spielte der „Verbrauch“ von Menschen beim Aufbau der Fabrik im Kohnstein keine Rolle. Die Häftlinge vegetierten in den Stollen, abgeschnitten von der Außenwelt. Gearbeitet wurde in zwei Schichten von jeweils 12 Stunden, sieben Tage in der Woche. Tonnenschwere Maschinen mussten allein durch Muskelkraft in die Tunnel geschafft werden, unterstützt nur durch Rollen, Stangen und Leinen. Der Stollenvortrieb erfolgte mittels schwerer Pressluftbohrer und Sprengstoff, der Abtransport der Steinbrocken musste mit Händen und Schaufeln bewältigt werden. Geschlafen wurde auf felsigem Boden, später auf vier-etagigen Holzpritschen, dicht gedrängt, im Staub und Lärm der ständigen Sprengungen.
Der Staub und die Gase hatten verheerende Auswirkungen auf Lungen und Augen, Wasser gab es kaum, so dass die Häftlinge sich den Kalkstaub mit Urin aus dem Gesicht wuschen. Als „sanitäre Anlagen“ dienten einige Kübel, zwischen denen tote Häftlinge bis zum nächsten Appell abgelegt wurden. Der ganze Tunnel war voll mit den Exkrementen der Häftlinge, der Gestank bestialisch. Die dünne Häftlingskleidung und das schlechte Schuhwerk waren schnell zerschlissen, hinzu kamen eine mangelhafte Ernährung sowie eine nicht existierende ärztliche Versorgung. Ständige Prügel und Misshandlungen durch Kapos und SS sowie Hinrichtungen, bei denen alle Häftlinge zuschauen mussten, waren an der Tagesordnung.
Vernichtung durch Arbeit – Arbeit bis zur Vernichtung
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen ließen viele Häftlinge elend umkommen. Allein in der Aufbauphase der unterirdischen Fabrik von Oktober 1943 bis März 1944 starben 2900 Häftlinge. Knapp ein Drittel davon war unter 30 Jahre alt, ein weiteres Drittel unter 40. Als Todesursache wurden Lungenentzündung, Durchfallerkrankungen, Kollaps aufgrund völliger körperlicher und seelischer Erschöpfung sowie Bindegewebsentzündungen angegeben. Zu den offiziellen Angaben über die Zahl der Todesfälle muss noch die hohe Zahl erschöpfter und damit unproduktiver Häftlinge hinzugerechnet werden, die ausgesondert und dann zur Ermordung in andere Lager geschafft wurden. Drei solcher Todestransporte mit jeweils 1000 Häftlingen wurden Anfang 1944 zusammengestellt.
Ein ehemaliger Häftling beschreibt einen der Transporte:
“Die körperliche Verfassung der selektierten Häftlinge war so bejammernswert, dass es sich kaum beschreiben lässt (…). SS-Hauptscharführer König (…) ordnete an, in jeden Waggon 50 Häftlinge zu pferchen. Als das Verladekommando ihm zu sanft mit den Häftlingen umging, befahl er größere Schnelligkeit und zwang das Kommando, die Menschen wie Säcke in die Waggons zu werfen. Um diesen Transport auf die Zahl 1000 zu bringen, wurden nackte Leichen, anscheinend aus dem Krematorium, sowie halbtote Kranke aus dem Häftlingsrevier dazugepackt. Danach wurden die Waggons mit Brettern vernagelt, ungeachtet der Schreie der Verladenen, die keine Luft bekamen. Die Häftlinge erhielten weder Verpflegung, noch Nahrung oder Decken.“
Mehr als 20.000 Menschen – ein Drittel aller Häftlinge des KZ-Komplexes Mittelbau-Dora – kamen bis April 1945 unter bestialischen Umständen ums Leben.
Epilog
Rund 6000 V2-Raketen wurden im Kohnstein produziert, ca. die Hälfte wurde abgefeuert – der Großteil gegen London und Antwerpen, wo einige tausend Opfer zu beklagen waren. Die Herstellung dieser Waffen kostete 20.000 KZ-Häftlingen vieler europäischer Nationalitäten und verschiedenster Religionsgruppen das Leben. Angesichts dieser Zahlen ist die Zahl derjenigen, die für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen wurden, lächerlich gering. Nur gegen 19 Personen wurde am 20. Juni 1947 vor dem amerikanischen Militärtribunal in Dachau Anklage erhoben. Unter diesen fand sich lediglich ein Vertreter der Mittelwerke GmbH, der Generaldirektor Georg Rickhey. Bei den übrigen handelte es sich um vier Kapos sowie 14 SS- Männer (von ca. 2400), alle in vergleichsweise geringem Rang. Das Verfahren endete mit einem Todesurteil, 14 z. T. lebenslangen Haftstrafen, sowie vier Freisprüchen, darunter auch für Georg Rickhey. Viele Verurteilte wurden vorzeitig aus der Haft entlassen.
Die wissenschaftlichen Spezialisten um den Leiter der Heeresversuchsanstalt Wernher von Braun stellten sich nach Kriegsende den Amerikanern, die sie mit offenen Armen empfingen. Von Braun setzte in den USA seine Karriere als Konstrukteur von Raketen fort und war am Bau von amerikanischen Kurz- und Mittelstreckenraketen beteiligt. Sein Lebenswerk krönte von Braun mit dem erfolgreichen Abschluss des amerikanischen Raumfahrtprogramms Apollo in den 60er Jahren, an dem er als Direktor des George-Marshall-Raumfahrtzentrums der NASA entscheidenden Anteil hatte.
Autor: Michael Fiedler
Propaganda…
„Und damit werden wir dann von selbst wieder zu einer Veredelung des Begriffs Arbeit kommen. (…) Unentwegt wird es (…) das Ziel der Bewegung, die ich und meine Mitkämpfer repräsentieren, sein, das Wort Arbeiter zum großen Ehrentitel der deutschen Nation zu erheben.
Adolf Hitler auf dem „Ersten Kongreß des deutschen Arbeitertums“ am 10. Mai 1933
Um jeden Preis…
„Kümmern Sie sich nicht um die menschlichen Opfer. Die Arbeit muss vonstatten gehen, und in möglichst kurzer Zeit.“
SS-Obergruppenführer Kammler, Leiter der Aufbauarbeiten im Kohnstein an das SS-Bewachungspersonal
… und Wirklichkeit
In den letzten Kriegsjahren hatten Hitler und seine Helfershelfer Deutschland in eines der größten Zwangsarbeitslager der Welt verwandelt. Im Herbst 1944 gab es im „Großdeutschen Reich“ insgesamt 7,7 Millionen ausländische Zwangsarbeiter. Dazu kamen die 500.000 KZ-Häftlinge in den Stammlagern sowie in den über 1000 Außenkommandos, die nicht selten direkt auf dem Betriebsgelände der deutschen Großunternehmen angelegt waren, welche die KZ-Häftlinge als Ersatzarbeitskräfte angefordert hatten.
Chronologie von Mittelbau-Dora
17./18. August 1943
Bombardierung der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, Forschungs- und Entwicklungsort der A 4 Rakete (V2). Es ergeht der Befehl, die Serienproduktion in die Tunnel des Kohnsteins zu verlegen.
28. August 1943
Der erste Transport mit KZ-Häftlingen trifft am Kohnstein ein.
Ab September 1943
Ständig neue Häftlingstransporte.
Oktober/November 1943
Die „Mittelwerk GmbH“ wird gegründet. Auftrag: Serienfertigung der so genannten V2 Raketenwaffen
15. Dezember 1943
Italienische Militärinternierte protestieren gegen ihren Arbeitseinsatz bei der Raketenproduktion. Die SS erschießt sieben Offiziere.
Dezember 1943
Die Lagerstärke des Außenlagers Dora beträgt 10.370 Häftlinge.
Die Zahl der Verstorbenen in diesem Monat: 672
1. Januar 1944
Die ersten V2-Raketen verlassen das „Mittelwerk“.
5. Januar 1944
1000 nicht mehr arbeitsfähige KZ-Häftlinge werden zur Ermordung nach Lublin bzw. Bergen-Belsen überstellt. Anfang Februar und Ende März folgen zwei weitere Transporte mit je 1000 Menschen.
Februar 1944
Bau des lagereigenen Krematoriums.
Juli 1944
Die Lagerstärke des Außenlagers „Dora“ beträgt 11.675 Häftlinge. Die Zahl der Verstorbenen in diesem Monat: 122
8. September 1944
Der erste Abschuss einer V2 gegen London.
1. Oktober 1944
Das Außenlager „Dora“ wird unter der Bezeichnung „Mittelbau“ ein selbständiges KZ, dem schließlich mehr als 30 Außenkommandos unterstellt sind.
18. November 1944
Defekte V2-Raketen werden zur Instandsetzung ins Mittelwerk zurückgeschickt. Daraufhin werden zahlreiche der Sabotage verdächtigte Häftlinge hingerichtet.
Januar/Februar 1945
Die sowjetrussische Armee rückt vor, aus den evakuierten Konzentrationslagern im Osten gelangen erschöpfte und kranke Häftlinge nach Mittelbau. Folge: völlige Überbelegung des Lagers.
März 1945
Die Lagerstärke des KZ „Mittelbau“ beträgt 39.725 Häftlinge. Mit 2542 Verstorbenen wird die höchste Zahl an Todesfällen in einem Monat registriert.
Anfang April 1945
Die Evakuierung von „Mittelbau“ und seiner Außenlager beginnt. Hunderte von Häftlingen kommen auf den Transporten um, oder werden ermordet.
6. April 1945
Rund 500 führende Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure aus der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und dem Mittelwerk setzen sich nach Bayern ab.
10. April 1945
Die Arbeiten im Mittelwerk werden eingestellt.
11. April 1945
Die ersten amerikanischen Soldaten besichtigen die unterirdischen Produktionsanlagen des Mittelwerks. Beim Betreten des Lagers finden sie Leichenberge und nur einige zurückgelassene Überlebende im Krankenrevier.
bis Ende Juni 1945
Amerikanische Spezialisten „bergen“ bestimmte Teile der Produktionsanlagen, Dokumente und 100 komplette V2-Raketen.
5. Juli 1945
Nach der Besetzung Thüringens durch die sowjetische Militäradministration betreten erstmals sowjetische Offiziere das Mittelwerk. Es ergeht der Befehl, die V2 mit deutschen Technikern unter sowjetischer Leitung nachzubauen.
Sommer 1948
Die Zugänge zum Stollensystem werden durch Sprengungen verschlossen.
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