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Rente statt Revolution …

Das Unfallversicherungsgesetz 1884
Rente statt Revolution …

Berlin, 6. Juli 1884. Im drit­ten Anlauf ver­ab­schiedet der deutsche Reich­stag das Unfal­lver­sicherungs­ge­setz. Von nun an haben Opfer von Arbeit­sun­fällen in ver­sicherten Betrieben einen Anspruch auf Entschädi­gung. Ver­sichert waren alle Gewer­be­be­triebe, die auf­grund ihrer Unfall­ge­fährlichkeit bere­its vom Reichshaftpflicht­ge­setz 1871 erfasst wor­den waren. Mit dem Unfal­lver­sicherungs­ge­setz errichtete Reich­skan­zler Otto von Bis­mar­ck nach dem Kranken­ver­sicherungs­ge­setz von 1883 die zweite Säule der deutschen Sozialver­sicherung, die dritte sollte 1889 mit der Invali­den­ver­sicherung folgen.

Nach 1850 wuchs der indus­trielle Sek­tor in Deutsch­land ras­ant: In vie­len Regio­nen, allen voran das Ruhrge­bi­et, schossen Fab­riken wie Pilze aus dem Boden, immer mehr Men­schen fan­den hier Lohn und Brot. Die Kehr­seite der Medaille: In den 1860er Jahren erre­ichte auch die Zahl der Arbeit­sun­fälle schwindel­er­re­gende Höhen. Eine wirk­same staatliche Kon­trolle der Arbeits­be­din­gun­gen fehlte noch; Fab­riken und Zechen gal­ten als Pri­vat­bere­ich des Unternehmers. Entsprechend waren sowohl Arbeit­slohn als auch Arbeits­be­din­gun­gen das Ergeb­nis „freier Ver­hand­lun­gen“ zwis­chen Arbeit­er ein­er­seits und Fab­rikant ander­er­seits. Arbeit­sun­fähigkeit als Folge eines erlit­te­nen Arbeit­sun­falls zog in der Regel die Kündi­gung und damit Armut und Elend nach sich.
Ein Prob­lem, das nicht unbe­merkt blieb. Vor allem unter dem Ein­druck auf­se­hen­erre­gen­der Masse­nunglücke erörterte die poli­tis­che Öffentlichkeit in der zweit­en Hälfte des 19. Jahrhun­derts endlich die Fra­gen nach Ursache und Fol­gen, nach Ver­mei­d­barkeit und Ver­ant­wor­tung, nach Ein­ste­hen für Schuld und nach Aus­gle­ich für Schaden: Arbeit­er­ver­samm­lun­gen und Fab­rikan­ten­vere­ine, poli­tis­che Parteien und die Fach­wis­senschaften befassten sich damit eben­so wie die Jus­tiz, die Regierungs­bürokratie und sog­ar der König.

Haftpflicht mit Mängeln

Eigentlich hätte das Prob­lem der Haf­tung durch das Haftpflicht­ge­setz von 1871 gelöst wer­den sollen. Danach war der­jenige, der ein Berg­w­erk oder eine Fab­rik betrieb, bei Unglücks­fällen nicht nur für sein eigenes Ver­schulden, son­dern auch für das sein­er Beauf­tragten ver­ant­wortlich und zu Schaden­er­satz verpflichtet. Allerd­ings mussten betrof­fene Arbeit­er oder Arbei­t­erin­nen dem für den Unfall Ver­ant­wortlichen, also dem Meis­ter oder anderen direk­ten Vorge­set­zten, schuld­haftes Ver­hal­ten nach­weisen. Dass dieser Nach­weis in der Regel nur schw­er zu führen war, liegt auf der Hand. Einzelne Arbeit­er mussten ver­suchen, Ansprüche gegen Groß­be­triebe mit eige­nen Rechtsabteilun­gen durchzuset­zen. Erschw­erend kam hinzu, dass sich viele Unternehmer ihrer­seits bei großen Ver­sicherungs­ge­sellschaften gegen den Haftpflicht­fall ver­sicherten. Insofern war es eher die Regel als die Aus­nahme, dass Verunglück­te wenig vom Haftpflicht­ge­setz prof­i­tierten und nach wie vor der Armen­hil­fe anheim fielen.
Das Haftpflicht­ge­setz wurde dementsprechend von den Betrof­fe­nen kri­tisiert, stieß aber auch son­st kaum auf Gegenliebe:
  • Die Arbeit­ge­ber bew­erteten das Haftpflicht­ge­setz als überflüssig.
  • Der Sozialdemokratie ging die Absicherung gegen Unfall­fol­gen bei weit­em nicht weit genug.
  • Der lib­eralen Min­is­te­ri­al­bürokratie ging das Haftpflicht­ge­setz schon viel zu weit.
  • Refor­mori­en­tierte Teile des Bürg­er­tums sahen auf­grund ein­seit­ige Entschei­dun­gen in der Haftpflicht­frage zuun­gun­sten der Arbeit­er­schaft die innere Geschlossen­heit des neuen Reichs gefährdet.
Bis­mar­ck lehnte die nahe­liegende Lösung ab, die Beweis­last ein­fach dem Arbeit­ge­ber aufzuer­legen. Seine Antwort hin­sichtlich der Ver­sorgung von verunglück­ten Arbeit­ern wies dann in eine ganz neue poli­tis­che Rich­tung: „Staat! Wo cul­pa (Schuld) nicht nach­weis­bar.“ Im ganzen Satz bedeutete das: Ersatz der Haftpflicht durch eine all­ge­meine Unfal­lver­sicherung unter staatlich­er Regelung.

Motive und Hintergründe der Unfallversicherung

Bis­mar­ck wollte eine öffentlich-rechtliche Unfal­lver­sicherung, die unab­hängig von der Ver­schuldens­frage den Betrof­fe­nen eine Entschädi­gung bot. Die Kosten für die Ver­sicherung soll­ten nach Bis­mar­cks Willen allein die Unternehmer und das Reich tra­gen; die Arbeit­er soll­ten als Betrof­fene nicht beteiligt wer­den, wed­er durch Zahlun­gen noch an der Organ­i­sa­tion der neuen Unfal­lver­sicherung. Es gelang ihm, einige Großin­dus­trielle für dieses Vorhaben zu gewin­nen. Darunter war auch der Bochumer Stahlin­dus­trielle Louis Baare, der 1880 eine Denkschrift ver­fasste, die zur Grund­lage für drei Regierungsvor­la­gen wurde. Baare ver­trat die Ansicht, dass eine wach­sende Indus­trie eine gesunde und zufriedene Arbeit­er­schaft brauchte – eine Ansicht, die in Indus­triekreisen nicht weit ver­bre­it­et war. Der größere Teil befürchtete als Folge der Unfal­lver­sicherung vor allem steigende Kosten und – damit ver­bun­den – den Ver­lust der Konkur­ren­zfähigkeit mit Eng­land. Bis­mar­ck nahm das Koste­nar­gu­ment zwar ernst, hielt aber die gesamte Sozialver­sicherung ein­schließlich der Unfal­lver­sicherung für preiswert­er als die vielfach befürchtete Rev­o­lu­tion. Denn, so Bis­mar­ck, „die ver­schlinge ganz andere Sum­men, als diese Poli­tik, die statt Land und Besitz dem Indus­triear­beit­er als Ersatz ein Quit­tungs­buch in die Hand gebe.“
Es war also weniger „soziale Gefühls­duse­lei“, wie ihm seine Geg­n­er vor­war­fen, als vielmehr poli­tis­ches Kalkül, das Bis­mar­ck zur Ein­führung der Sozialver­sicherung antrieb. Sie sollte das Vehikel sein, die zahlen­mäßig starke, aber staatsver­drossene Arbeit­er­schaft mit eben diesem Staat zu ver­söh­nen und vor allem den Sozialdemokrat­en abspen­stig zu machen – eben Rente statt Rev­o­lu­tion. Und für den harten und klassen­be­wussten Kern der Arbeit­er­schaft, der sich davon nicht beein­druck­en ließ, gab es ja noch das „Sozial­is­tenge­setz“. „Rück­endeck­ung“ für diese Poli­tik hat­te Bis­mar­ck von Kaiser Wil­helm I., der 1881 in der berühmten „Kaiser­lichen Botschaft“ eben die Sozialver­sicherung als Lösung der „sozialen Frage“ angekündigt hatte.

Aller guten Dinge sind drei

Erst im drit­ten Anlauf – nach 1881 und 1883 – wurde am 6. Juli 1884 das Unfall- ver­sicherungs­ge­setz vom Reich­stag ver­ab­schiedet. Ver­sichert waren alle Gewer­be­be­triebe, die bere­its auf­grund ihrer Unfall­ge­fährlichkeit vom Reichshaftpflicht­ge­setz 1871 erfasst waren. Die Beiträge hat­ten allein die Unternehmer aufzubrin­gen, die dafür von ihrer per­sön­lichen Haftpflicht befre­it wur­den. Um die anfal­l­en­den Kosten nach dem Verur­sacher­prinzip gerecht verteilen zu kön­nen, wur­den die Unternehmer in nach Gewer­ben gegliederte Beruf­sgenossen­schaften zusam­menge­fasst. Die Höhe der Beiträge richtete sich nach der Ein­stu­fung des jew­eili­gen Betriebs in so genan­nte Gefahrk­lassen, d. h. Branchen mit weniger Unfällen zahlten auch niedrigere Beiträge. Damit sollte das Inter­esse der Unternehmer an der Unfal­lver­hü­tung geweckt werden.
Die Beruf­sgenossen­schaften hat­ten zunächst das Recht, nach 1900 auch die Pflicht, Unfal­lver­hü­tung in den Betrieben zu betreiben. Sie durften ihre Auf­gaben in eigen­er Ver­ant­wor­tung, aber unter Auf­sicht des Staates aus­führen. Die Auf­sicht­spflicht nahm das neu errichtete Reichsver­sicherungsamt wahr. Die Unfal­l­entschädi­gung wurde bei Unfällen mit tödlichem Aus­gang, Arbeit­sun­fähigkeit und Inva­lid­ität gewährt. Damit hat­te sich Bis­mar­ck weit­ge­hend durchge­set­zt. Einzig der Reich­szuschuss, der den Staat nach Bis­mar­cks Absicht bei den Arbeit­ern als Wohltäter hätte erscheinen lassen sollen, wurde durch eine ein­fache Reichs­garantie ersetzt.

Gesetzliche Unfallversicherung heute

Die geset­zliche Unfal­lver­sicherung ist nach wie vor eine tra­gende Säule des deutschen Sozialver­sicherungssys­tems. So waren im Jahre 2007 mehr als 70 Mio. Men­schen in Deutsch­land gegen Arbeits‑, Wege- und Schu­lun­fälle sowie Beruf­skrankheit­en ver­sichert. Dabei haben die Unfal­lver­sicherungsträger für den Bere­ich der gewerblichen Wirtschaft und der öffentlichen Hand im gle­ichen Jahr Entschädi­gungsleis­tun­gen nach Ein­tritt des Ver­sicherungs­falls in Höhe von rund 8,2 Mrd. Euro erbracht. Dabei han­delte es sich um Dienst‑, Sach- und Bar­leis­tun­gen an Unfal­lver­let­zte, Beruf­serkrank­te und Hin­terbliebene. Ca. 2,8 Mrd. Euro wur­den allein für Heil­be­hand­lung, medi­zinis­che, beru­fliche und soziale Reha­bil­i­ta­tion aufgewen­det, über 5,3 Mrd. Euro wur­den für Renten, Abfind­un­gen, Bei­hil­fen und ähn­lich­es bezahlt.
Autor: Michael Fiedler

Das „Sozialistengesetz“
Dieses am 21.10.1878 vom Reich­stag ver­ab­schiedete Aus­nah­mege­setz „gegen die gemeinge­fährlichen Bestre­bun­gen der Sozialdemokratie“ sollte die sozialdemokratis­che Parteior­gan­i­sa­tion sowie die Gew­erkschaften durch Versammlungs‑, Pub­lika­tions- und Organ­i­sa­tionsver­bot zer­schla­gen. Bei Zuwider­hand­lung dro­hte Gefäng­nis, mehr als 900 Per­so­n­en erhiel­ten auf der Grund­lage dieses Geset­zes Haft­strafen. Das Sozial­is­tenge­setz war auf 30 Monate befris­tet und wurde bis 1890 regelmäßig ver­längert. Am Ende sein­er Laufzeit waren die Sozialdemokrat­en stärk­er als zuvor.

Auszüge aus der „Kaiserlichen Botschaft“ 1881
„Schon im Feb­ru­ar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeu­gung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schä­den nicht auss­chließlich im Wege der Repres­sion sozialdemokratis­ch­er Auss­chre­itun­gen, son­dern gle­ich­mäßig auf dem der pos­i­tiv­en Förderung des Wohles der Arbeit­er zu suchen ist. Wir hal­ten es für Unsere kaiser­liche Pflicht, dem Reich­stag diese Auf­gabe von neuem ans Herz zu leg­en (…) In diesem Sinne wird zunächst der von den ver­bün­de­ten Regierun­gen in der vorigen Ses­sion vorgelegte Entwurf eines Geset­zes über die Ver­sicherung der Arbeit­er gegen Betrieb­sun­fälle mit Rück­sicht auf die im Reich­stage stattge­habten Ver­hand­lun­gen über densel­ben ein­er Umar­beitung unter­zo­gen, um die erneute Berathung des­sel­ben vorzu­bere­it­en. Ergänzend wird ihm eine Vor­lage zur Seite treten, welche sich eine gle­ich­mäßige Organ­i­sa­tion des gewerblichen Krankenkassen­we­sens zur Auf­gabe stellt. Aber auch diejeni­gen, welche durch Alter oder Inva­lid­ität erwerb­sun­fähig wer­den, haben der Gesammtheit gegenüber einen begrün­de­ten Anspruch auf ein höheres staatlich­er Für­sorge, als ihnen bish­er hat zutheil wer­den können (…)“

Hier die weiteren Beiträge aus der Serie „Historie des Arbeitsschutzes“:

Das erste Arbeitss­chutzge­setz von 1839 — Arbeitss­chutz fängt bei den Kindern an!
https://www.sifa-sibe.de/fachbeitraege/archiv-sb/arbeitsschutz-faengt-bei-den-kindern-an/

Von der Fab­rikin­spek­tion zur Gewer­beauf­sicht – Ver­trauen ist gut …
https://www.sifa-sibe.de/fachbeitraege/archiv-sb/vertrauen-ist-gut/

Pri­vate Helfer im staatlichen Arbeitss­chutz – Vom DÜV zum TÜV
https://www.sifa-sibe.de/fachbeitraege/archiv-sb/vom-duev-zum-tuev/

Das Unfal­lver­sicherungs­ge­setz 1884 — Rente statt Revolution …
https://www.sifa-sibe.de/fachbeitraege/archiv-sb/rente-statt-revolution/

Der große Bergar­beit­er­streik 1889 — Ohne mehr „Kohle“ keine Kohle mehr …
https://www.sifa-sibe.de/fachbeitraege/archiv-sb/ohne-mehr-kohle-keine-kohle-mehr/

Das Deutsche Arbeitsmu­se­um – DASA
https://www.sifa-sibe.de/fachbeitraege/archiv-sb/voll-leben-und-bewegung/

His­torisches zum The­ma Berufskrankheiten
https://www.sifa-sibe.de/fachbeitraege/archiv-sb/arbeit-und-krankheit/

Arbeit bis zur Ver­nich­tung, das Beispiel Mit­tel­bau Dora
https://www.sifa-sibe.de/fachbeitraege/archiv-sb/arbeit-bis-zur-vernichtung-das-beispiel-mittelbau-dora/

Arbeitss­chutz in der DDR
https://www.sifa-sibe.de/fachbeitraege/archiv-sb/zwischen-weltniveau-und-mangelwirtschaft/

 

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