Da der Arbeitgeber in den meisten Fällen eine leblose juristische Person sein wird (siehe Folge 5), muss der Arbeitsschutz von verantwortlichen natürlichen Personen durchgeführt werden, die für den Arbeitgeber handeln – das sind Führungskräfte und damit Menschen.
Führungskräfte wünschen sich Rechtssicherheit
Führungskräfte sehnen sich nach Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Wir alle wünschen uns, dass das Recht uns eine klare Antwort gibt, was „zur Sicherheit“ in einer bestimmten Situation getan werden muss. Reinhard Sprenger hat von der „Sehnsucht vieler Manager nach Berechenbarkeit“ gesprochen1. Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat diese Sehnsucht und Sucht nach Rechtsklarheit einmal so zum Ausdruck gebracht: „Gesetze sind keine Bananen; sie dürfen nicht erst beim Abnehmer reifen“.
Aber es hat „sich als Illusion erwiesen, dass der Gesetzgeber durch seine Normen im Voraus vollständig und endgültig die Entscheidung jedes Einzelfalles festlegen kann“2. Reinhard Sprenger fordert „wir müssen Abschied nehmen von der Schein-sicherheit. Führung ist immer Arbeit durch den Zweifel“3.
Ein anderer früherer Bundespräsident, Roman Herzog, kritisierte: „Die Deutschen machen gerne Vorschriften. Dazu kommt noch der Fimmel, möglichst immer bis auf die siebente Stelle hinter dem Komma Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen. Das ist der Fluch unserer Rechtsordnung: Man sollte bisweilen wirklich nur bis zu einem bestimmten Grad auf die sogenannten Fachleute hören, die alles bis ins Kleinste differenzieren wollen und dabei alles fürchterlich kompliziert machen“.
Das Recht aber fordert Sicherheit in der konkreten Situation
Natürlich enthalten das Arbeitsschutzrecht und die Unfallverhütungsvorschriften sehr viele Detailvorgaben. Aber immer gilt zusätzlich: Der Arbeitgeber beziehungsweise Unternehmer muss die „erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen“ (so sagt es § 3 ArbSchG und ähnlich § 2 DGUV Vorschrift 1). Das ist übrigens fast immer so im Recht – jedenfalls wenn es um Sicherheit geht. So regelt die Straßenverkehrsordnung sehr detailliert Einzelheiten, aber § 1 StVO verlangt: „Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet wird“ – und: „Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht“. Im Strafrecht etwa wird – auch nach Arbeitsunfällen – folgende Formel verwendet: Die bei Unterlassen von Sicherheitsmaßnahmen für eine Verurteilung wegen Fahrlässigkeit erforderliche Garantenstellung (siehe Folge 4) hängt „letztlich von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab; dabei bedarf es einer Abwägung der Interessenlage und des Verantwortungsbereichs der Beteiligten“4.
Arbeitsschutz ist nicht schlichter Gesetzesvollzug, sondern schwierige Abwägung und Wertung
Es gibt ziemlich viele Entscheidungen, die einfach und klar sind und bei denen es nicht viel zu überlegen, zu wägen und zu werten gibt. Wenn aber das „Erforderliche“ zu tun ist, wenn „Gefährdungen“ zu vermeiden sind und wenn eine „Abwägung der Interessenlage“ erforderlich ist, ist Arbeitsschutzverantwortung häufig untrennbar verbunden mit schwierigen Sachverhaltsermittlungen und Wertungsentscheidungen. Sicherheitsentscheidungen sind sachverhaltsabhängig. Es geht um die „Erfüllung von Situationsanforderungen“5. Reinhard Sprenger sagt es so: „Menschliche Handlungsbedingungen sind durch Widersprüchlichkeiten, Ungereimtheiten und Unsicherheit gekennzeichnet“, daher ist „jede Management-Entscheidung wertgetränkt“ – und daraus folgt zweierlei:
- Erstens „steigert der Verlust von Gewissheit die Bedeutung der Person“ – gemeint ist der Entscheider – jeder, der eine Frage mit Sicherheitsbezug entscheidet.
- Zweitens benötigen die entscheidenden („bedeutenden“) Personen eine gewisse „Unsicherheitstoleranz“ – nicht in dem Sinne, dass sie bei ihren Entscheidungen Unsicherheiten für ihre Beschäftigten akzeptieren müssen, sondern dass sie (Rechts-)Unsicherheit nach den getroffenen Entscheidungen akzeptieren müssen.
Fazit
Es gibt zwei Ausgangspunkte für alle Überlegungen, was zur Gewährleistung des Arbeitsschutzes in Betrieben durch wen zu tun ist:
- Gesetze können nicht abschließend festlegen, was im Interesse des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in den Betrieben im Einzelnen zu tun ist. Das ist in der Gefährdungsbeurteilung zu ermitteln.
- Es entscheiden Menschen und nicht Gesetze und auch nicht juristische Personen – letztlich also auch nicht der Arbeitgeber, so wie man es aber immer wieder hört, sondern die Führungskräfte, die als Menschen für den Arbeitgeber tätig werden.6
Fußnoten
1 Reinhard K. Sprenger, Aufstand des Individuums: Warum wir Führung komplett neu denken müssen, 2005, S. 29.
2 Ingeborg Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 76.
3 Reinhard K. Sprenger, Gut aufgestellt – Fußballstrategien für Manager, 2008, S. 34 f.
4 So der BGH im Urteil um Unfall der Wuppertaler Schwebebahn – ausführlich Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen (2020).
5 Jürgen Schmidt-Salzer, Strafrechtliche Produkthaftung, 1982, Rn. 88, S. 59.
6 Siehe auch Wilrich, Arbeitsschutzverantwortung für Sicherheitsbeauftragte: Bestellung, Rechtsstellung, Pflichten und Haftung als Vertrauenspersonen und Beschäftigte – Grundwissen Arbeitssicherheit, Führungspflichten und Unternehmensorganisation (2021).
Weitere Teile der Rechtsserie:
Verantwortung für Tun: Handlungsverantwortung ist die Basis des Arbeitsschutzes
Keine Verantwortung ohne Befugnisse – keine Befugnis ohne Verantwortung
„Befehl ist Befehl“: Die Gehorsamspflicht ist stärker als das Haftungsrecht
Der Mensch steht im Mittelpunkt – und der Mensch ist Mittel. Punkt
Es entscheiden und es gehorchen Menschen: Befehl ist Befehl!
Wann ist Vertrauen gut, wann sind Achtsamkeit und Zweifel besser?
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Befehlsverweigerung bei Erkennbarkeit der Sicherheitswidrigkeit
Autor:
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich
Hochschule München, Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Professor für Wirtschafts‑, Arbeits‑, Technik‑, Unternehmensorganisationsrecht
und Recht für Ingenieure